Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Monika Rittershaus

Aktuelle Aufführungen

Angstbilder vom Niedergang der Macht

CHOWANSCHTSCHINA
(Modest Mussorgskij)

Besuch am
27. Februar 2016
(Premiere)

 

 

Nationale Opera, Amsterdam

Mussorgskijs Chowantschina ist ein Torso und wird es immer bleiben. Das Fragmentarische des Werkes und seine mannigfaltigen musikalischen Fassungen, beispielsweise von Schostakowitsch und Rimskij-Korsakow, erfordern eine Bühnen-Umsetzung mit einer fantasievollen dramaturgischen Klammer für die verwirrenden Einzelstränge der Handlung. 

Regisseur Christof Loy lässt in seiner Neuproduktion die machtorientierten Charaktere und zeitweise einflussreichen Volks- und Heerführer der Handlung als Anti-Helden und angstgetriebene Täter und Opfer zugleich erscheinen. Sie alle kämpfen mit Intrigen, ihre eigenen Machtapparate wie das „Privat“-Heer der Strelitzen oder die Macht ihres Glaubens für ihre individuellen Ziele und Überzeugungen und erstreben einflussreiche Positionen im Zarenreich, die sie niemals erreichen. Denn jenseits der sichtbaren Handlungsebene waltet die Zarin oder ihr Sohn Peter und kontrollieren, wenn auch in Unsicherheit, doch immer noch die politische Situation. Die Führer aller dargestellten Parteien werden in den Stadien ihres jeweiligen wie selbst inszenierten Niedergangs gezeigt, sei es in der religiös motivierten Selbstverbrennung beim Anführer der Altgläubigen Dossifej oder dem klassischen, politischen Mord und der Verbannung, denen Chowanskij und Golizyn zum Opfer fallen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

In allen Fällen sind diese einstmals machtgetriebenen Charaktere durch ihre eigene Psyche schon vor dem konkreten politischen Abstieg gezeichnet. Wie das Heraufziehen einer Naturkatastrophe beobachten sie ihren eigenen Fall. Sei es, dass Golizyn die Tröstung der Wahrsage sucht und bei Verkündigung einer anderen, erschreckenden Zukunft blitzhaft von Todesangst gebrochen ist. Oder der einstmals so starke Chowanskij bei Ankündigung einer durch die Zarin befohlenen Untersuchung nachgerade psychisch und physisch zerbricht und seinem eigenen „Volk“ auf Zeit, den Strelitzen, nur noch in Schwachheit und Verzweiflung entgegenzutreten vermag.

Foto © Monika Rittershaus

Für Chowanskij kommt es noch schlimmer. In seinem Palast versucht er sich in verzweifelt-manischer Lebensgier gewaltsam mit sehr jungen Mädchen seines Harems zu vergnügen. Als er zur Zarin aufbrechen will, wird er auf Geheiß Schaklowityis von einem unschuldig wirkenden Kind, einem kleinen Mädchen, mit dem Messer erstochen. In dieser ausgespielten Angstvision Chowanskijs wird die weiblich-kindliche Unschuld pervertiert und tritt mordend in Erscheinung.  Es stockt einem der Atem – eine eiskalte klinische Analyse vom Miterleben des eigenen Todes.

Nur Schaklowityi, der Oberintrigant und Bojar als Vertreter des alten Systems, wandelt noch weiter unbeschadet durch die Aktionen der Handlung.  Er ist es, der im Zentrum des Werkes in seiner Arie Schlafe, russisches Volk die schönste Musik und mitleidvolle Anteilnahme für das Leiden des russischen Volkes vorbringt.

Die Bühne von Johannes Leiacker ist ein Kasten eines wechselnd klinischen-weißen oder tod-schwarzen Raums, in welchem zu Beginn und wieder ganz am Ende in einer großen Öffnung Surikovs Gemälde Am Morgen der Strelitzenhinrichtung erscheint. Das Bild wird auf der Bühne ergänzt durch ein realistisch nachgeformtes Abbild eines wie im vollen Kampfgalopp erschlagenen, gesattelten Schimmels, der einen Teil der Bühne einnimmt – Sinnbild des ewigen Kampfes. Die Personen der Handlung, Solisten und Teile des Chores, erwachen zu Beginn und erstarren ebenso am Ende der Handlung als Teil des Bildmotivs wie in einer Scharade auf der Bühne. Dazu tragen sie Kostüme aus der historischen Zeit der Gemäldedarstellung, die sie während der übrigen Handlung des Werkes durch zeitgenössische Kleidung ersetzen.  Eine zeitgemäße, bezwingendere Versinnbildlichung des ewigen Kreislaufs von Macht und Untergang ist nicht vorstellbar. Die exzellenten Kostüme stammen von Ursula Renzenbrink, die einfühlsame Lichtgestaltung von Reinhard Traub. 

Dmitry Ivashchenko als Iwan Chowanskij spielt den Ritt durch die psychischen Abgründe grandios. Wegen einer Erkältung lässt er stimmliche Indisposition ankündigen. Eine ebenso erschütternde darstellerische und hervorragend gesangliche Leistung vollbringt Kurt Streit als Golyzin. Ihm gelingt ein Rollenportrait eines zutiefst unsicheren Menschen, der weit im Vorfeld seines realen Abstiegs in sich selbst zusammenbricht. Streit vermag seinen Tenor ganz in den Dienst der Gebrochenheit seines Charakters zu stellen. Eiskalt und unnahbar, dabei mit wunderbarem Timbre und klarer Diktion ist Gabor Bretz der undurchsichtige Bojar Schaklowityi. Orlin Anastassov als Dossifej rundet dieses überragende Ensemble der machthungrigen Kontrahenten überzeugend ab. Maxim Aksenov ist ein exzellenter Andrej Chowanskij, dessen Unreife er schauspielerisch glänzend verkörpert. Der Schreiber von Andrey Popov vermag mit seiner facettenreichen Stimmführung und seinem unheimlich-verschlagenen Spiel eine spannungsreiche Unbestimmtheit zu erzeugen, bei der keiner, der ihm begegnet, Vertrauen in seine Person und seine Erklärungen zu gewinnen vermag. Er ist in den Wirren wie ein Katalysator der Unsicherheit, statt über Schrift und Kommunikation zu vermitteln.

Bei den Frauen überzeugen in hervorragender Besetzung Svetlana Aksenova als Emma und Olga Savova als Suzanna. Stimmlich jedoch schießt die Marfa der Anita Rachvelishvili an diesem Abend den Vogel ab. Ihr Timbre steht auch in den feinsten Pianissimo-Phrasen wie eine Säule mit feinsten Nuancen im Raum – ihre leidenschaftliche Ausdruckskraft reißt mit.

Mit Roger Smeets als Warssonowjew, Vasily Efimov als als Kuska, Morschi Franz als Streschnjew und den Strelitzen von Vitali Rozynko und Sulkhan Jaian sind auch die weiteren Rollen sehr gut besetzt.

Der Chor der Nationaloper unter der Leitung von Ching-Lien Wu leistet Außerordentliches. Die Differenzierung in allen Stimmlagen, vor allem in den tiefen Männerstimmen, ist so durchsichtig und klar, wie man es selten bei einem so zahlreichen Ensemble erlebt.

Das Nederlands Philharmonisch Orkest unter Ingo Metzmacher ist glänzend aufgelegt. Man merkt dem Spiel an, dass es Metzmacher seit den Zeiten seines regelmäßigen Arbeitens am Amsterdamer Haus ein Anliegen ist, dieses Werk dort auf die Bühne zu bringen. Das Orchester folgt ihm im besten Sinne routiniert und wachsam.

Das Publikum bedankt sich mit stehenden Ovationen beim gesamten Ensemble. Bravostürme bei der Rachvelishvili und viele Bravorufe für Ivaschenko, Kurt Streit und Gabor Bretz. Auch das Regieteam wird mit Bravorufen und ohne Proteste gefeiert.

Aus Deutschlands Perspektive schaut man bei Opernaufführungen öfter nach London und Paris. Diese Meisterleistung der Oper Amsterdam lehrt uns, dass mit Holland sehr wohl zu rechnen ist. Eine grandiose Produktion, die man nicht verpassen darf.

Achim Dombrowski