Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Monika Rittershaus

Aktuelle Aufführungen

Zugewandtheit unter Atriden

ELEKTRA
(Richard Strauss)

Besuch am
23. Oktober 2016
(Premiere)

 

 

Staatsoper Berlin

Diesmal nicht immer nur hysterische Ausbrüche, Dauertoben des Orchesters, ohrenbetäubendes Forte-Singen der Protagonistinnen. Was ist mit Elektra passiert?

Patrice Chereau und sein Team im Einklang mit Daniel Barenboim haben die Atriden-Sage in einem konsequent unaufgeregten, sachlichen Format umgesetzt.

Charakterzeichnung, Personenführung, und auch die Entwicklung der musikalischen Linien basieren zunächst – und im Übrigen durchgehend fast ausschließlich – auf den Beziehungsebenen einer existierenden Familienstruktur. So begegnen sich Klytämnestra und Elektra in ihrer großen Szene wie zwei vertraute Menschen, eben wie Mutter und Tochter. Die Begegnung wird dann einzig durch Elektra „gestört“. Klytämnestra bricht selbst nach Erhalt der vermeintlichen Todesnachricht ihres Sohnes Orest nicht in das übliche hysterische Schrei-Gelächter aus, vielmehr erhält sie eine schriftliche Nachricht, die sie gar nicht wahrnimmt. Das schrille Orchesterspiel reflektiert in dem Moment die Gefühlswelt Elektras. Klytämnestra blickt hingegen noch immer Elektra innerlich bewegt und mit nachhaltig zugewandter Haltung an, gar nicht in der Lage, die herausgeschleuderten Worte des Hasses ihrer Tochter glauben oder auf sich beziehen zu können. Unendlich langsam und ohne die Beziehung zu ihrer Tochter unterbrechen zu wollen, wendet sie sich zum Verlassen der Szene.

Auch der Fluch Elektras gegen ihre Schwester Chrysothemis bewirkt bei dieser ungläubiges Staunen, gewissermaßen eine Nicht-Wahrnehmung des eigentlichen Fluches, die auch dazu führt, dass sie ihre Schwester nach der Tat des Orest wieder ansprechen kann wie zuvor.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Auch Elektra wird zunächst zurückhaltend geführt, mit Elementen des Verletzlichen, sogar Zarten, bis sie den in sich hineingefressenen Hass nicht mehr aushält und sich der Überdruck in einer Extremsituation entlädt. Für Chereau ist es der Überdruck nicht gelebter Sexualität, die im Kern Elektra als Opfer prägt.

Foto © Monika Rittershaus

Ganz zum Schluss bleibt sie neben den in dieser Produktion auf der Bühne liegenden Leichen von Klytämnestra und Aegisth wie in einer transzendenten Haltung zurück. Sie fällt am Ende ihres Tanzes eben nicht tot um. Sie muss nun im Angesicht der Leichen von Mutter und Geliebtem wissen, wie und wer sie wirklich ist, wohin sie diese Transzendenz trägt. Bevor der Vorhang fällt ist nicht klar, ob es ein Überschreiten der Grenze zum Tod oder zu einem Leben nach der erfüllten Rache ist.

Die Inszenierung fordert den Hörer zum eigenen Nachdenken, ohne das letzte Wort anzubieten und bringt damit eine Kernfrage der Tragödie auf den Punkt und in das Bewusstsein eines teilnehmenden Zuschauers.        

Chereau hat diese Produktion 2013 in Aix-en-Provence kurz vor seinem Tot herausgebracht. Sie ist eine Koproduktion mit der Scala, der Metropolitan New York und den Opernhäusern in Helsinki, Barcelona und eben der Staatsoper Berlin, und wird jetzt in diesen Häusern gezeigt und von Chereaus langjährigen Begleitern Peter McClintock und Vincent Huguet szenisch sorgsam betreut. Das Bühnenbild wird von dem Chereau immer begleitenden Richard Peduzzi, die Kostüme von Caroline de Vivaise, das Licht von Dominique Bruguire verantwortet. Die szenische Gestaltung entspricht mit den im Bild nur angedeuteten klassisch-griechischen Elementen und den neutral-neuzeitlichen Kostümen der darstellerischen Zurückhaltung und Form der Charakterbildung und Personenführung.  

Die drei großen Frauenpartien sind mit der Elektra der Evelyn Herlitzius, der Klytämnestra der Waltraud Meier und der Chrysothemis der Adrianne Pieczonka glanzvoll und bewährt besetzt. Es ist keine Einschränkung, wenn man festhält, dass im Einzelfall die von Barenboim immer wieder behutsam und auf Zwischentöne bedachte Orchesterführung den Stimmreserven der Protagonistinnen entgegenkommt. Herlitzius entspricht in allen darstellerischen und stimmlichen Facetten, bis hin zu den gewaltigen stimmlichen Eruptionen der verzehrenden Außenseiterrolle. Meier und Pieczonka spielen die in dieser Inszenierung herausragenden Beziehungselemente zu Elektra mit großer Überzeugungskraft aus. Sie erhalten mit diesem Konzept eine großartige Gelegenheit, ihre stimmliche und darstellerische Kunst umzusetzen.

Orest wird von Michael Volle verkörpert, dem die Partie und konzeptionelle Umsetzung dieser Produktion stimmlich und in der Stimme wie auf den Leib geschnitten erscheinen. Aegisth ist Stephan Rügamer.

Bei den weiteren Partien der Vertrauten, Mägde, Schleppträgerin und Diener leistet sich diese Produktion nachgerade eine Parade von Altstars der Opernbühne, die durch ihre Mitwirkung dem verstorbenen Regisseur ihren Respekt bezeugen. Wir erleben einen 93-jährigen Franz Mazura in der Rolle des Pflegers, der in dieser Fassung anstelle Orests den Aegisth auf offener Bühne ersticht. Weiterhin Cheryl Studer, Donald McIntyre und Roberta Alexander, und bei den jüngeren, heute aktiven Sängern Marina Prudenskaya, Bonita Hyman, Katharina Kammerloher, Anna Samuil und Florian Hoffmann.

Der Chor wurde von Martin Wright einstudiert.

Das schon legendäre Team der Staatskapelle und Daniel Barenboims haben sich mit dieser Elektra eine weitere Meisterleistung erarbeitet. Noch nie hat man die Zwischentöne, die schwarz-weißen Klangschattierungen und -steigerungen differenzierter erlebt. Die Durchsichtigkeit der Orchestergruppen ist nicht zu überbieten. Dabei formt das Orchester zusammen mit der Szene eine überzeugende Einheit in der Verfolgung eines entschlackten, durchsichtigen, von allzu schnellen und lauten Ausbrüchen befreiten Stils.

Ovationen des begeisterten Hauses, Bravorufe für alle Solisten, orkanartiger Applaus für Herlitzius. Barenboim zeigt sich mit Stolz und seiner Staatskapelle auf der Bühne.

Achim Dombrowski