Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bettina Stöß

Aktuelle Aufführungen

Niedergang einer Gesellschaft

DIE HUGENOTTEN
(Giacomo Meyerbeer)

Besuch am
13. November 2016
(Premiere)

 

 

Deutsche Oper Berlin

Als die Hugenotten 1836 in der Opéra national de Paris uraufgeführt wurden, handelte es sich um eine der ersten kommerziellen Opern überhaupt. Giacomo Meyerbeer war sich bewusst, dass er bei der langen Aufführungsdauer des Werkes mit komplexen und vielschichtigen Handlungselementen zwischen Liebesgeschichte, Verrat sowie religiöser und politischer Geschichte etwas aufbieten musste, um sein Publikum bei Laune zu halten.

Die Deutsche Oper tut das wahrlich auch. Sie holt zunächst mit David Alden einen Regisseur, der es liebt, möglichst viel Musik und Szenerie der auch von Meyerbeer selbst je nach Bedarf des Aufführungsortes zusammengestellten Partitur erklingen zu lassen, und keinerlei Probleme hat, den sich „sorgsam“ entwickelnden musikalischen Spannungsbögen szenisch liebevoll und ausgiebig zu widmen.  Denn insgesamt dauert die Aufführung inklusive zweier Pausen fünf Stunden und fünfzehn Minuten und reicht zeitlich mithin an die Dimensionen der Götterdämmerung heran. Für wie spannungsreich und gehaltvoll der Zuhörer die Passagen der Meyerbeerschen Musik über den gesamten Abend empfindet, mag er selbst entscheiden, jedenfalls gelingt es Alden in erstaunlichem Maße, die nicht wenigen Handlungselemente, Entwicklungen und Schicksale klar zu gliedern und über diese ungemein lange Spanne lebendig zu gestalten.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Schon in den ersten beiden Akten wird eine getrennte Männer- und Frauengesellschaft in ihren männlich-dominaten, bigotten Moralvorstellungen und weiblichen Duldungshaltung sichtbar, die im gelungen Bild von Giles Cadle und der fein gestuften Lichtregie von Adam Silverman sowie den Kostümen von Constance Hoffman atmosphärische Elemente des Niedergangs vermittelt, ohne dass die Betroffenen, insbesondere die Frauen, die gewohnte Umgebung für etwas anderes eintauschen wollten. Alden bedient sich in diesen Akten nicht selten komischer und ironischer Bildelemente, die die Atmosphäre des Verlogenen konterkarieren.

Foto © Bettina Stöß

Im dritten Akt scheint zunächst Friede zu herrschen. Doch die in engen Kirchenbänken eingezwängten Protagonisten schlagen gewissermaßen immer mehr um sich. Es scheint, dass sich niemand den unterdrückten und unterdrückenden Spannungen entziehen kann. Wenngleich das Ziel dieser sich andeutenden Ausbrüche noch unklar ist, erfordert die schwüle Luft wohl bald eine Entladung. Dort, wo im ersten und zweiten Akt noch Spiele und Leichtigkeit vorherrschten, deuten sich Unordnung und Aggression an.

Im vierten und fünften Akt wird schließlich bildmächtig die Entwicklung einer untergehenden Gesellschaft zum Bürgerkrieg und zur blutgetränkten Eskalation der Bartholomäusnacht gezeigt, der keiner mehr entkommt, die entgrenzt alle Parteien erfasst und zu Tätern und Opfern macht.    

Die Qualität eines einzigarten Sängerensembles trägt wesentlich dieses intensive Theatererlebnis. An der Spitze Patrizia Ciofi mit wandelbarer, koloratur-gestählter Stimme und zunächst komischen Darstellungselementen, später tragischer Geste. Gleichrangig das unter den Behinderungen der zur Entstehungszeit gewissermaßen üblichen Be- und Verhinderungen der Opernhandlung schließlich zueinanderfindende Paar Valentine und Raoul von Nangis mit Olesya Golovneva und Juan-Diego Florez, beide stimmliche Idealbesetzungen für die Partien, die auch darstellerisch keine Nuance schuldig bleiben. Ebenso hervorzuheben Irene Roberts als Page Urbain mit der gebührend leichteren Stimme und den noch geschmeidigeren Koloraturen. Unübertroffen zudem Ante Jerkunica als Raouls Kurwenal-gleicher Gefährte Marcel, dessen markanter und in der empathischen Emphase balsamischer Bass heutzutage seinesgleichen auf den Opernbühnen der Welt sucht.

Valentines Vater Derek Welton und der Graf von Nevers von Marc Barrard sind glänzend besetzt wie auch das Quintett von Paul Kaufmann, Andrew Dickinson, John Carpenter, Alexei Botnarciuc und Stephen Bonk als katholische Edelleute.

Chor und Extrachor der Deutschen Oper Berlin unter Raymond Hughes erfüllen die großen Aufgaben mit Leidenschaft und Hingabe und vermögen den tragischen Handlungsbogen an jeder Stelle stimmlich und darstellerisch auszufüllen, mehr noch: zu prägen. Alle bringen sich mit großer Spielfreude ein. Das gilt auch für die zwei Mädchen von Adriana Ferfezka und Abigail Levis, die bei den wachsenden unterschwelligen Spannungen und religiösen Verzückungen neben ihren gesanglichen Leistungen auch noch eine kleine Bravournummer im hysterischen Beten vollführen müssen.

Daneben kommt bei dieser Produktion selbstverständlich noch das Opernballett mit einer Choreografie von Marcel Leemann und eine nicht kleine Statisterie zum Einsatz, die Bilder und Geschehen atmosphärisch dicht abrunden.

Wahrlich eine Grand opéra auf einer Berliner Bühne, die dem in dieser Stadt geborenen Komponisten alle Ehre macht. Die Deutsche Oper hat mit dieser Neuinszenierung einen weiteren, wichtigen Beitrag zum Runden des eigenen Meyerbeer-Zyklus geleistet und kann stolz auf den Erfolg sein.

Das Publikum steigert sich ermattet nach der über fünfstündigen Aufführung gleichwohl in ein Beifalls-Delirium für alle Solisten, allen voran für die Ciofi, Golovneva, Roberts sowie Florez und Jekunika. Jubel des vollbesetzten Hauses für Chor und Orchester unter der Leitung des Italieners Michele Mariotti, der nach kleineren Wacklern zu Beginn die gewaltigen Apparate einfühlsam führt und die langen Bögen leidenschaftlich und mit Verve entwickelt. Vereinzelte Buhrufe für das Regieteam, die alsbald im Chor der Begeisterten untergehen.       

Achim Dombrowski