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Foto © Chris van der Burght

Aktuelle Aufführungen

Bochumer Passionsspiele

NICHT SCHLAFEN
(Alain Platel)

Besuch am
3. September 2016
(Uraufführung am 1. September 2016)

 

 

Ruhrtriennale, Jahrhunderthalle Bochum

Alain Platel ist einer der wenigen Künstler, die seit den Anfängen kontinuierlich unter verschiedenen Intendanzen in die Ruhrtriennale integriert sind. Bereits Gründungsintendant Gerard Mortier lädt Platel und die von ihm 1984 in Gent ins Leben gerufene Compagnie Les Ballets C de la B – C steht für Contemporains, B für Belgique –  für die Mozart-Choreografie Wolf ein, später folgen die Bach- und Monteverdi-Bearbeitungen Pitié ! und VSPRS. Gerard Mortier ist es auch, der in seiner Madrider Zeit und kurz vor seinem Tod Platel auf Gustav Mahler hingewiesen hat. Er habe den Eindruck, so Mortier in einem Gespräch mit Platel, dass dieser jetzt reif sei für Mahler. Die Ruhrtriennale macht die Begegnung jetzt mit einem Auftragswerk möglich: Alain Platels Mahler-Projekt erlebt nach einer viermonatigen Vorbereitungsphase in Gent in der Bochumer Jahrhunderthalle seine Uraufführung.

Die Faszination und Wirkmächtigkeit der Arbeiten von Platel beruht bislang elementar auf dem Kontrast des Schmerzaprioris einerseits, einer der Ästhetik des Leidens und der Häßlichkeit verpflichteten Choreografie, und der ungemeinen Schönheit und Perfektion der religiös unterfütterten Musik des Barock andererseits. Mahler ist da jetzt eine ganz andere Kategorie: Seine Musik integriert alle Facetten vom Irdischen bis zum Himmlischen, vom Militärmarsch bis zum Choral.  Alles umfassend soll die Musik nach eigenem Bekunden sein, alles enthalten. Sie ist Ausdruck der Gebrochenheit des Einzelnen im „Weltgetümmel“ und seines Schmerzes, dem „Alldurchdringer“, wie es in der zweiten Symphonie heisst. Die oft motorische Erbarmungslosigkeit des musikalischen Ablaufs verweist auf das Katastrophische, auf den Mahlstrom der Geschichte, bezeichnet Tod, Verwundung und Verzweiflung. Allerdings nicht ausschließlich: immer auch gibt es Aus- oder Rückblicke auf mögliches Glück.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Der Ausgangslage nach könnte man also einen tief bewegenden Abend erwarten, zudem noch eine weitere Person ins Spiel kommt, die auf die Darstellung von Tod und Verletzlichkeit spezialisiert ist: die ebenfalls in Gent lebende Bildhauerin Berlinde de Bruyckere. Für die Bochumer Bühne entwickelt sie eine Skulptur aus drei übereinandergeschichteten plastifizierten Pferdekadavern. Pferde liefern seit Picasso ikonographisch die Symbolik für die Schrecken des 20. Jahrhunderts. De Bruyckere präpariert tote Pferde zu Memento-mori-Skulpturen, stellt sie in Ausstellungen und Skulpturenparks aus. Die erste Serie dieser Art entstand 2000 für das Gewandhaus in Ypern im Gedenken an den Ersten Weltkrieg. Zu den Ballets C de la B hat de Bruyckere eine lange und enge freundschaftliche Beziehung, weil sie die Tänzer als Models für ihre humanoide Skulpturen einsetzt. Nicht schlafen ist das erste Projekt, bei dem Compagnie und Bildhauerin inhaltlich an einem Stück zusammenarbeiten. Die Tänzer sind von Anfang an in den Entstehungsprozess der Bühneninstallation einbezogen und begleiteten de Bruyckere in die Pathologie der Genter Universität bei der Präparation der drei Pferdeleichen.

Foto © Chris van der Burght

Die Klangdramaturgie obliegt dem seit 2010 mit Platel zusammenarbeitenden Komponisten Steven Prengels. Er kombiniert Auszüge aus Mahlers Symphonien – mit Ausnahme der 8. und der fragmentarischen 10. sind alle Symphonien zitiert – mit Mahler-Arrangements, Soundscapes – Klanglandschaften – genannt. Auffällig ist dabei die Vorliebe für langsame Sätze: schleppend, gemächlich, sehr langsam oder ruhevoll sind die Tempobezeichnungen. Prengels bindet auch fremdes Tonmaterial in seine Soundscapes ein: Geräusche von schlafenden Tieren, die eine unter dem Pseudonym K 49814 arbeitende Künstlerin aufnahm: der Schlaf als Bruder des Todes. Hinzu kommen ein Arrangement nach Bachs Den Tod niemals zwingen kunnt und kongolesische Pygmäen-Gesänge; als Tänzer und Musiker zugleich fungieren hier Boule Mpanya und Russel Tshiebua.

Die Choreografie Platels orientiert sich nicht an der symphonischen Großstruktur, für die Mahler steht. Sie ist musikalisch und choreografisch sequenziert in mehr oder weniger verbundene Einzelacts. Der Beginn zeigt ein unbestimmbares Ritual vor der Bühnenskulptur von Berlinde de Bruyckere. Prengels „Mahlerscape“ mischt glockenklingenden Naturlaut mit Mahler-Fragmenten. Acht Männer und eine Frau bilden das multiethnische Ensemble. Dem folgt unverbunden eine Szene, in der das ganze Ensemble wechselseitig übereinander herfällt. Keiner ist vor dem anderen sicher, keiner ist Sympathieträger, alle verhalten sich rücksichtslos, schonungslos, reißen sich einander die Kleider vom Leib. Auch das berückende Adagietto aus der Fünften mag die Gruppe nicht zu besänftigen. Die Tänzer agieren hier kontrastiv gegen die Musik, dem elegischen Stil wird mit kurzen und hektischen Bewegungen Paroli geboten. Eindrucksvoll eine spätere Szene, die ein Menschenopfer zeigt, dass gehäutet wird oder ein afrikanischer Fussschellentanz zum ersten Satz von Mahlers Sechster.

Die fast zweistündige Choreografie endet mit dem wuchtigen Kopfsatz – allegro maestoso – der Zweiten, der sogenannten Auferstehungssymphonie. Von Nathalie Bauer Lechner ist überliefert, dass Mahler bei der Komposition des Satzes seinen eigenen Tod visioniert, sich unter Kränzen und Blumen aufgebahrt liegen sieht. So erhält der Satz den Beinamen Todtenfeier, die Komposition beschreibt diese Vision mit einem trauermarschartigen, düsteren Grundcharakter. Platel fordert das Ensemble auf, „so eng wie möglich bei der Musik zu bleiben“. Das hat allerdings keinen Effekt. Die tänzerischen Reaktionen wirken eindimensional, sind direkt als Doppelung ableitbar und erkennbar, sie verbinden sich weder inhaltlich noch strukturell mit dem Werk. Vielleicht entwickelt sich aufgrund des individuell improvisatorischen Charakters keine Dichte und Tiefe, die der komplexen Partitur entsprechen könnte. Auch insgesamt stellt sich am Ende ein Gefühl des Unbehagens ein. Die vielen exzellenten Elemente stehen unverbunden nebeneinander und befruchten sich nicht gegenseitig.

Trotzdem: Platels Compagnie ist nach wie vor ein Ensemble der Extraklasse. Hart bis an die Grenzen des Erträglichen sind sie gefordert, vom Bochumer Publikum werden sie geliebt. Heftige und lange Ovationen gibt es.

nicht schlafen geht nach der Bochumer Uraufführungsphase auf eine ausgedehnte Tournee durch Frankreich, Italien und Belgien. In Deutschland ist nicht schlafen wieder im November 2016 in der Hamburger Kampnagelfabrik und im Februar 2017 am Schauspiel Köln zu sehen.

Dirk Ufermann