Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Valentina Moar - Foto © Nana Franck

Aktuelle Aufführungen

Entgrenzungen

NIEMANDSLÄNDER
(Howool Baek, Valentina Moar,
Laia Samartin)

Besuch am
11. Juli 2016
(Premiere am 8. Juli 2016)

Asphalt-Festival,
Weltkunstzimmer, Alte Farbwerke

Asphalt – das Sommerfestival der Künste startet mit Niemandsländer. Ein Abend von drei Choreografinnen an drei verschiedenen Aufführungsorten. Ein erster Vorgeschmack darauf, dass in der kommenden Woche einiges anders sein wird, als man es von Festivals gewohnt ist.

Tanz ist ein anderer Weg, um mit Menschen zu sprechen: Das ist das Credo von Howool Baek, die ihre Arbeit in der Glashalle des Weltkunstzimmers, einer der zentralen Veranstaltungsorte des Festivals, vorstellt. Der morbide Charme der verrottenden Gebäude einer früheren Backfabrik bietet den idealen Rahmen für diesen Tanzabend. In der Glashalle ist vor dem großen Werkstor eine Tanzfläche eingerichtet, die von jeweils vier Scheinwerfern eingerahmt wird. Vor der Tanzfläche ist eine Tribüne mit ungemütlichen Sitzschalen aufgebaut, die zur zweiten Aufführung mit gerade mal 25 Gästen besetzt ist. Am rückwärtigen Eingang wird den Besuchern ein Zettel ausgehändigt, der die übliche Reaktion auslöst. Ein Blick – „ach, das ist ja Englisch“ – und der Zettel wird beiseitegelegt. Ein zweiter Blick zeigt, dass es wirklich niemanden der international ausgerichteten Veranstalter überfordert hätte, die wenigen Zeilen in Deutsch zu übersetzen. Hier gibt es sicher wie bei anderen Veranstaltern auch Verbesserungsbedarf, will man das Publikum erreichen. Bis dahin bleiben die deutschsprachigen Besucher auf sich selbst gestellt und im Verständnis der Aufführungen allein gelassen.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Baek allerdings hat eine so eigene Bewegungssprache entwickelt, dass sich ihr Sinn möglicherweise auch von selbst erschließt. Wenn der Körper nicht wie gewohnt seine Funktionen ausführt, sondern beispielsweise den Extremitäten andere Funktionen zugewiesen werden, ergeben sich völlig neue Ausdrucksformen. Die Choreografin lässt die Hände zu Füßen werden und umgekehrt. Der Rumpf bewegt sich amöbenhaft. So will Baek auf die fehlende Integration und deren Folgen für Neubewohner in fremden vulgo Niemandsländern hinweisen. Hendrik Haupt unterstreicht mit seinem Lichtdesign in hervorragender Subtilität die Wirkung von Baeks Arbeit, während Matthias Erian einen Klangteppich komponiert hat und live aufführt, der mitunter wenig Rücksicht auf die Ohren des Publikums nimmt. Er nennt das Musik. Nun ja. Wenn Klang und Geräusch an sich Musik sind, hat er wohl recht. Das Untermalung und Bewegung in Einklang kommen, spricht für die Abstraktionsfähigkeit der Tänzerin.

Laia Sanmartin - Foto © Nana Franck

Als sich nach herzlichem Beifall das Werkstor öffnet und die Gäste in den sommerlich hellen Abend entlässt, ist das der letzte große Moment des gelungenen Einstands. Im Backraum des Weltkunstzimmers sind zwei Stuhlreihen kreisförmig um eine goldfarbene Folie mit einer Wasserschale darauf angeordnet. Das Tanztheater, das die Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin Laia Sanmartin vorbereitet hat, beginnt allerdings nicht im Kreisrund, sondern als gitarrenspielende Sängerin meldet Sanmartin sich aus dem Hintergrund. Eindrucksvoll die Lichtkomposition. Ein Lichtschacht wirft sanftes, warmes Licht in die Lücke zwischen Publikum und Sängerin, die, nur als Silhouette erkennbar, vor einem blauen Hintergrund sitzt. Schließlich stellt Sanmartin die Gitarre beiseite, erhebt sich und schleppt sich, von steinerner Kugel an ihrem Fuß behindert, auf die Bühnenfläche. Von dem spanisch vorgetragenen Lied hat niemand etwas verstanden, aber der Vortrag gefällt. Lächelnd, warum auch immer, betritt die Künstlerin im roten, schulterfreien Kleid die Arena und tritt in den goldenen Kreis ein. Sie kniet nieder, benetzt sich mit dem Wasser, fügt dem Wasser eine schlammähnliche Substanz bei und übergießt sich erneut – das Oberteil des Kleides ist auf die Hüfte gerutscht – ehe sie zu einem Monolog ansetzt, den wiederum niemand versteht. Allein der Intensität ihres Vortrags ist zu verdanken, dass die Gästeschar am Ende begeistert applaudiert. Erst am Ausgang gibt es den Zettel mit dem deutschen Text des Vortrags. Wäre schön, wenn man ihn vorher gekannt hätte. Dann hätte sich auch die ganze Dramatik des Erlebten erschlossen. Es geht nicht immer ohne Worte, deshalb sei hier stellvertretend die Widmung von Sola wiedergegeben. „Dieses Stück ist allen Frauen und Männern gewidmet, die für eine bessere Welt kämpfen und auf ihrem Weg in Niemandsländern vergessen werden.“

Nun heißt es, das Gelände des Weltkunstzimmers zu verlassen und sich gemeinsam mit der Gruppe zur Halle 21 der Alten Farbwerke zu begeben. Dort warten Valentina Moar und Marco Schretter auf die Besucher, um ihnen die Choreografie von Moar mit dem Titel Der Abschied von Zuhause zu präsentieren. Das Niemandsland des Altersheims ist Gegenstand der Auseinandersetzung. In vier Stationen zeigt die Choreografin und Tänzerin in einer Mischung aus Akrobatik und Joga-Übungen, wie sie mit Erinnerungsfeldern gegen das abgestumpfte, reduzierte Dasein im Altersheim angeht. Der pausenlose Wechsel zwischen Skulpturen brennt sich ebenso in das Gedächtnis ein wie das Posing an der dritten Station. Der Höhepunkt des schwingenden Tisches zum Schluss fällt ein wenig dem trüben Licht zum Opfer. Aber trotz des hanebüchenen Kostüms bleibt im Endergebnis ein außerordentlich starker Abend in Erinnerung, der viel für die kommenden Ereignisse verspricht.

Michael S. Zerban