Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Helen Ree

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Erwartungen und Wünsche

PINK FOR GIRLS AND BLUE FOR BOYS
(Tabea Martin)

Besuch am
1. Mai 2016
(Deutsche Erstaufführung)

 

 

Indianer kriesche nit“, bekommen Jungs im Rheinland zu hören, wenn sie denn partout nicht zu weinen aufhören wollen. Warum das so sein soll, und wie ihnen das im momentanen Kummer helfen soll, erfahren die kleinen Racker nicht. Bis heute haben sich die Geschlechterrollen trotz aller Gleichstellungsbemühungen in der kindlichen Erziehung nicht wesentlich geändert. Die einen nennen so was wertkonservativ und identitätsstiftend, die anderen rückständig und dringend änderungsbedürftig. Eigentlich ist das geschlechtsspezifische Verhalten Heranwachsender eher ein Thema für Soziologen, Gleichstellungsbeauftragte oder professionelle Erzieher – beiderlei Geschlechts, versteht sich.

Die Choreografin Tabea Martin hat sich dieses Themas ebenfalls angenommen und zeigt in deutscher Erstaufführung ihr annähernd einstündiges Stück Pink for Girls and Blue for Boys am Tanzhaus NRW. Präsentiert wird das Werk explizit „in der Reihe Kleine Monster“, ohne dass man erführe, was es mit dieser Reihe auf sich hat. Schaut man sich die Zusammensetzung des Publikums an, scheint es sich bei den kleinen Monstern um die Zielgruppe der Kindergarten-Kinder zu handeln. Kinder also, die von der begleitenden Mama schon mal wissen wollen „Wo geht der Mann hin?“ oder vom Opa „Was macht die Frau da?“. Und da muss die Frage erlaubt sein, ob hier die richtige Zielgruppe angegangen wird. Zumal es mitunter durchaus deftig zur Sache geht.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Am Anfang steht der blanke Raum der Studiobühne, für dessen Ausgestaltung im Weiteren Doris Margarete Schmidt die Verantwortung trägt. Ein Mann in Unterhosen und einem schwarzen Turban betritt den Raum und trägt eine Mikrowelle herein, um sie im Hintergrund abzustellen und an die Stromquelle anzuschließen. Eine Frau folgt mit einer Zimmerpflanze, ebenfalls in Unterwäsche und schwarzer Kopfbedeckung. So werden von den vier Protagonisten nach und nach Requisiten hereingetragen. Eine Wasserwanne, Teetassen und schließlich drei große, sackähnliche Pakete, die zu einer Couch zusammengesetzt werden. Die Kopfbedeckungen entpuppen sich als Ganzkörper-Trikots, die die Akteure überstreifen. Mirjam Egli hat sich die fantasievollen Kostüme ausgedacht.

Foto © Helen Ree

Lange bleiben die Absichten der Choreografin verborgen. Eine Samba sorgt für erste tänzerische Bewegungen, die von den Männern im Grundschritt, von den Frauen in eher freien Figuren vollzogen werden. Was hier noch keiner ahnt: Dass binnen kürzester Zeit nicht nur die Geschlechterrollen vollständig auf den Kopf gestellt, sondern auch sämtliche Genre-Grenzen gesprengt werden. Bleibt es, wenn Männer Männer und Frauen Frauen küssen, noch im tänzerischen Bereich, ist nach der Umkehr der klassischen Tänzerrollen Schluss damit.

Theater in all seinen Erscheinungsformen bricht sich Bahn. Sprache und Gesang finden Eingang, das Sofa würgt weitere Requisiten hervor, mit denen die Akteure immer neue Verkleidungsformen finden, in denen die geschlechterspezifischen Merkmale sich ständig grotesker werdend verlieren, vom anderen Geschlecht übernommen und wieder verworfen, in neuen Formen erneut aufgegriffen werden. Farbenfroh entwickeln sich die Fantasien der Tänzer bis zur vollständigen Entsinnlichung. Am Ende stellt Martin keine Fragen mehr, hat keine Antworten gegeben, sondern die Lust auf das Ausprobieren gezeigt.

Maria de Dueñas ist die kongeniale Partnerin der Choreografin, die ihre Ideen expressiv ausarbeitet – und dass ihr am Ende Pink im Wortsinne zum Halse heraushängt, ist fast die Krönung. Den unverständig Naiven gibt humorvoll Miguel do Vale, der sich mit Carl Staaf hervorragend ergänzt. Melanie Wirz bildet einen schönen Counterpart zu de Dueñas. Insgesamt tobt ein Team auf der Bühne, dass die Ideen der Choreografin ideal verstärkt und sich der Lust am Theater nahezu bedingungslos hingibt.

Das Publikum, das der Applausstärke zufolge doch zur Hälfte aus erwachsenen Begleitern besteht – und damit wären ja dann auch die vielleicht plausibleren Ansprechpartner erreicht – feiert die Protagonisten dieser fantasievollen und ausdrucksstarken Aufführung nachhaltig, von der man sich wünscht, dass es mehr davon gäbe.

Michael S. Zerban