Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Susanne Diesner

Aktuelle Aufführungen

Gegensätze der Sehnsucht

STERNZEICHEN 9
(Düsseldorfer Symphoniker)

Besuch am
25. April 2016
(Premiere am 22. April 2016)

 

 

Tonhalle Düsseldorf

Ob die Düsseldorfer eigentlich wissen, wie reich sie sind? Es gibt keinen Tag in der Woche, an dem sie nicht die Möglichkeit haben, ein kulturelles Angebot wahrzunehmen. An einem Montagabend ins Konzert? Kein Problem. In der Tonhalle spielen die städtischen Symphoniker auf. Und die Düsseldorfer können sich sogar noch mehr Luxus leisten. Sie brauchen das Angebot nicht wahrzunehmen. Und so ist die Konzerthalle bestenfalls gut besucht.

Zugegeben, der Titel Sternzeichen 9 lässt nicht auf den ersten Blick erkennen, dass es sich hier um eine ausgesprochen hochkarätige Veranstaltung handeln könnte. Aber immerhin verrät das Internet mehr. Es gibt die Uraufführung der Vokalise eines untröstlichen Engels von Helmut Oehring mit Marisol Montalvo als einer der besten Sängerinnen zeitgenössischer Musik und dem Gitarristen Daniel Göritz. Zur Psalmensymphonie von Igor Strawinsky tritt der Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf an. Von Sergej Rachmaninow wird eine weitere Vokalise beigesteuert, ehe der Abend mit der bombastischen Symphonie Nr. 5 e-moll opus 64 von Peter Tschaikowsky abschließt. Die vier Werke haben eines gemeinsam: Sie drehen sich um die Sehnsucht. Und zeigen doch vollkommen unterschiedliche Aspekte dieses großen Begriffs.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Oehring, der sich längst auch einen Namen als Opernkomponist gemacht hat, lässt sich bei seiner Komposition von Paul Klees Gemälde Angelus novus inspirieren, das einen stilisierten Engel zeigt, der so aussieht, als hebe er sich von etwas hinweg. Untröstlich eben. Göritz eröffnet mit kräftigen Vibrati seiner E-Gitarre, an die sich das Orchester anschließt. Der Komponist legt nicht viel Wert auf Transparenz, eher legt er Schicht auf Schicht, aus denen kurze Klavierpassagen erklingen, die überleitende oder verbindende Funktion haben. So entsteht ein sehr dichtes Werk, das sich sicher nicht beim ersten Hören vollständig erschließt. In die Komplexität der etwa zehnminütigen Orchestermusik greift in der zweiten Hälfte die Sängerin ein.

Keri-Lynn Wilson - Foto © Susanne Diesner

Eine Vokalise ist vielleicht das Stück der höchsten Exzellenz für einen Sänger oder eine Sängerin. Es gibt bei einer Vokalise keinen „Anlauf“, keine Chance, sich für die schwierigeren Stellen „aufzuheben“ und es gibt auch keinen Text, der dem Künstler Orientierungshilfen gibt. Montalvo, die gerade nach Auftritten beim koreanischen Tongyeong International Music Festival zurückgekehrt ist und noch kurz einen Abstecher beim Schönberg-Center in Wien eingelegt hat, setzt den Schwierigkeitsgrad noch eins höher und unterstreicht mit Gebärden den Text, den das Orchester aufzusagen hat. Dabei hat Oehring ihr nichts erspart. Von der Mittellage geht es in höchste Höhen und zurück, häufig sind die Fallhöhen geradezu atemberaubend. Die Sopranistin meistert das grandios – und handelt sich letztlich doch mehr Sympathien mit der zweiten Vokalise von Sergej Rachmaninow ein. Deutlich melodiöser, verzichtet sie hier auch gleich auf das Notenblatt. Und das Publikum ist hingerissen von einer Stimme, die sich in der Höhe silberhell öffnet, ohne in der Mittellage auch nur einen Moment an Intensität oder Deutlichkeit zu verlieren.

Das Orchester ist damit bei seiner zweiten Premiere gelandet, nachdem es die Psalmensymphonie gemeinsam mit dem Chor des Städtischen Musikvereins in der Einstudierung von Marieddy Rossetto ganz im Sinne von Strawinsky präsentiert hat, der einen Gleichklang oder eine Gleichberechtigung von Chor und Orchester einforderte. Die letzte Aufführung dieses mächtigen Werkes, das Sehnsucht mehr aus religiöser Perspektive behandelt, liegt bereits 14 Jahre zurück, so dass man hier nicht wirklich von einer Wiederaufnahme sprechen kann.

Gewiss werden bei der letzten Aufführung von Tschaikowskys Fünfter vor fünf Jahren etliche Musiker der Düsseldorfer Symphoniker schon dabei gewesen sein, trotzdem dürfte die Vergangenheit so manche Erinnerung verwischt haben. Für das Orchester kein Problem. Schließlich sind manche Stellen dieser opernhaften Symphonie so schön, dass sie sogar den versteinerten Gesichtern der Musiker noch ein Lächeln entlocken. Vermutlich wird der eine oder andere Musikkritiker die Nase rümpfen, weil dieser „Schlager der Symphonik“ auf dem Programmzettel steht. Das Publikum – und für das wird gespielt – sieht das anders und genießt nicht nur das Werk, sondern auch die Präsentation dieses Abends.

Keri-Lynn Wilson trägt mit der musikalischen Leitung des Abends sicher ihren Teil dazu bei. Ungewöhnlich das Dirigat. Wo alte Dirigenten mit Würde und Diktat ans Pult treten, öffnet sie ihren Körper, legt viel Wert auf die persönliche Kommunikation, wo immer sie in das Blickfeld der Musiker gerät und schaut bei Tschaikowsky nicht einmal in die Partitur.

Bravo-Rufe sind der Lohn für einen wahrhaft überzeugenden, nein, mitreißenden Abend in der Tonhalle. Und Wilson verwendet viel Mühe darauf zu zeigen, wem das Publikum diesen Genuss zu verdanken hat. Immer wieder ruft sie die einzelnen Instrumentengruppen auf, drückt viele Hände, um ihre Dankbarkeit für einen rundherum gelungenen Konzertabend auszudrücken.

Montagabend in Düsseldorf. Großartig.

Michael S. Zerban