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Foto der Premiere © Bettina Stöß

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Mehr Gelassenheit

IL BARBIERE DI SIVIGLIA
(Giacchino Rossini)

Besuch am
30. Oktober 2016
(Premiere am 4. Juni 2016)

 

 

Aalto-Musiktheater Essen

Der vielbeschworene Zauber der Premiere ist überbewertet. Inzwischen sind die Erwartungen des Publikums – und der Kritiker – so hochgeschraubt, dass selbst die Profis auf der Bühne und im Graben unter einem kaum noch zu bewältigenden Erfolgsdruck stehen. Da bekommt, ohne es zu ahnen, mancher Besucher einer Wiederaufnahme eine deutlich bessere Aufführung zu sehen. Unsicherheiten sind im besten Sinne einer Routine gewichen, die mehr Gestaltungsfreiheit zulässt, das Leitungsteam, das bei der Premiere auf jeden Schritt achtete, ist abgereist und hat die Verantwortung an das Ensemble abgetreten.

Ein schönes Beispiel dafür ist Il barbiere di Siviglia. Das Aalto-Musiktheater in Essen zeigt derzeit die Wiederaufnahme der Inszenierung von Jan Philipp Gloger aus dem Juni dieses Jahres. Schon bei der Premiere wurde die Aufführung hochgelobt – nicht ohne allerlei Kritteleien und Schwierigkeiten bei der Interpretation.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Gloger setzt die Frachtkiste als Symbol dafür, dass alles Ware ist. Bis hin zu Menschen, die zu Objekten verkommen, und ihren Gefühlen, die ebenfalls Bestandteil der Warenwelt sind. In Figaros Welt geht es ausschließlich um den Austausch solcher Waren gegen Geld. Er ist der perfekte Kapitalist und weiß, dass er sich nicht, wie früher, auf den vielzitierten Strippenzieher reduzieren darf, sondern seine Mittel differenzieren und sich heute als Dirigent begreifen muss. War der Strippenzieher noch jemand, der relativ robust an den einzelnen Schaltstellen ansetzen konnte, ist der Dirigent derjenige, der nicht nur das Handwerk, sondern auch die Kunst beherrscht, den rechten Klang zur richtigen Zeit zu finden.

Foto der Premiere © Bettina Stöß

Aus solchen Prämissen entwickelt Gloger konsequent seine Geschichte. Schon im Vorspiel tritt der Barbier als Dirigent auf, der, Rossini geschuldet, längst noch nicht alles im Griff hat, aber über ein ausreichendes Selbstbewusstsein verfügt, sich davon nicht anfechten zu lassen.

Und schon kommt Ben Baur ins Spiel. Er lässt vom Figaro die erste Kiste auf die Bühne fahren, als nächstes wird Rosina vorgefahren und in der Kiste versenkt. Anschließend wird die Kiste in ihrer Größe vervielfacht, bis sie halbiert als Guckkastenbühne – und idealer Schalltrichter – dient. Dass sie nach zu langer Zeit schlussendlich auseinandergeklappt wird und den Blick auf eine ganze Containerladung weiterer Frachtkisten freigibt, ist entweder nicht zu Ende gedacht oder ein ziemlich pessimistisches Bild. Für letztere Annahme spricht, dass im Schlussbild sämtliche Personen in den Kisten verschwinden. Die Kostüme von Marie Roth weisen mit viel Witz darauf hin, dass das Stück in der Gegenwart angesiedelt ist.

Sich darum näher gekümmert zu haben, muss außerhalb der Gestaltungsmöglichkeit des Regisseurs gelegen haben, denn das hätte jedes Zeitbudget gesprengt. Gloger nämlich hat sich in extenso um jede Person gekümmert. Ob der aus einer Mischung von Karajan bis Sagripanti entwickelte Dirigent oder die Formensprache, die er bei Rosina vollkommen sprengt, ob die exakt gezeichneten Orchestermusiker, die von den Choristen gemimt werden, oder der bis in den Fingerzeig choreografierte Auftritt von Basilio: Das kann man nicht anders als sensationell bezeichnen.

Das Licht wird in groben Strichen gezeichnet, erzielt aber auf den Punkt seine Wirkung. Und wem das alles an Inszenierung nicht reicht: Auch die behutsam, aber schlagkräftig modernisierten Übertitel sorgen für etliche Heiterkeit.

Exzellent auch jede einzelne Stimme dieses Abends. Una voce poco fa ist eine Arie, bei der jede Sopranistin sich bemüht, sie möglichst „sauber“ hinzukriegen.  Sich hier eigene Akzente zu erlauben, braucht es wohl eine Sängerin wie Karin Strobos, die respektlos frisch an die Rosina herangeht. Symptomatisch für den Abend erlaubt sie sich Pausen, Übersteigerungen und andere Exaltiertheiten, wie man sie bislang nicht gehört haben dürfte. Unglaublich ihre Spielfreude, mit der sie vor intimsten – bis zu schmerzhaften – Berührungen nicht zurückschreckt, statt Posen völlig andere Ausdrucksformen findet – das muss man gesehen haben. Figaro Gerardo Garciacano hat seinen Bariton so sicher und selbstverständlich im Griff, dass er sich ganz auf die selbstverständliche Verschmitztheit seiner Rolle konzentrieren kann. Gogler setzt hier nicht auf Überdrehtheit, sondern auf die Wirkung kleiner Gesten, wenn der Barbier beispielsweise Geld ausschüttet. Baurzhan Anderzhanov spielt und singt einen absolut passenden Bartolo. Basilio wird von Tijl Faveyts mit großartigem Bass interpretiert. Selten hört man einen Bass, der in allen Lagen so wunderbar klar erscheint wie er. Diabolisch und eitel tritt der Musiklehrer auf, um letztlich zu scheitern. Als Graf Almaviva oder Lindoro tritt inzwischen Levy Strauss Sekgapane an. Seine stimmlichen Eskapaden allein sind schon einen Besuch wert, und was er spielerisch auf die Bühne bringt, zeugt von großem Enthusiasmus. Die Nebenrollen von Berta, hier Christina Clark, und Fiorillo, der von Karel Martin Ludvik im Kokain-Rausch „gestrampelt“ wird, sind nach wie vor große Klasse. Allen gemein ist eine vorbildhafte Textverständlichkeit.

Der Chor in der Einstudierung von Patrick Jaskolka zeichnet sich neben dem vorbildlichen Gesang vor allem durch seine Spielfreude aus.

Dirigent Giacomo Sagripanti macht es den Sängern leicht, über den Graben zu kommen. Intensiv leiten seine Gesten die Sänger wie die Musiker. Es ist eine Freude, ihm bei der Arbeit zuzusehen. Und die Philharmoniker folgen ihm gern. Zumal Gogler auch in der Musik einige Feinheiten eingebaut hat, die aus einem Rossini das gewisse Etwas mehr machen.

Im Haus bleiben viele Plätze frei. Zu Unrecht. Selten kann man Rossini so vollendet erleben wie derzeit in Essen. Frei von jedem Fieber einer Premiere kann man sich hier voll und ganz auf einen Genuss einlassen, den man so nicht jeden Tag erlebt. Drei Stunden lang hat das Publikum einfach nur Spaß. Gewiss, der Applaus in der Wiederaufnahme ist nicht ganz so überhitzt wie in einer Premiere. Aber der Arienapplaus und die Gelächter an der richtigen Stelle zeigen, dass auch das Publikum voll und ganz von dieser Aufführung überzeugt ist.

Michael S. Zerban