Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Costin Radu

Aktuelle Aufführungen

Von der Suche nach sich selbst

ALICE IN WONDERLAND
(Luiz Fernando Bongiovanni)

Besuch am
31. Oktober 2015
(Premiere)

 

 

Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen

Keine Angst: Was der brasilianische Choreograf Luiz Fernando Bongiovanni und das immer stärker werdende Ballettensemble des Musiktheaters im Revier zeigen, ist keine weitere niedliche Adaption von Lewis Carrolls Erfolgsroman, sondern Tanztheater auf hohem künstlerischem Niveau, gleichwohl mit gewichtigem Unterhaltungswert für Jung und Alt.

Die Schwierigkeit, erwachsen zu werden, die Schmerzen, die die Suche nach der eigenen Identität mit sich bringt: All das führt Alice in ein Reich, in dem die Gesetze der kühlen Logik aufgehoben sind. Die Gelsenkirchener Produktion bringt Carrolls Intentionen in einer Ballettproduktion auf den Punkt, an der so gut wie alles stimmt. Das interessante Sujet, die einfallsreiche Choreografie, ambitionierte Tänzer, die geschickte Musikauswahl und eine brillante Ausstattung. Und sie präsentiert sich so konzentriert, dass sie mit dem Kleinen Haus des Musiktheaters auskommt, wodurch der Kontakt mit dem Publikum noch enger geknüpft werden kann.

Das „Kleine Haus“ ist aber auch das einzig „Kleine“ an diesem Abend, auch wenn das Gelsenkirchener Wonderland damit nicht mit der Opulenz der großen Nussknacker-Produktionen der Nachbarhäuser in Essen und Dortmund konkurrieren kann. Das will Ballettdirektorin Bridget Breiner auch gar nicht. Dafür ist eine durchdachte, fantasievolle, liebevoll ausgefeilte und ausgestattete Auseinandersetzung mit dem Kinderroman zu sehen.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Ältere Kinder können durchaus Vergnügen an der Choreografie finden, auch wenn es Bongiovanni weniger um eine naive Bilderwelt geht, sondern um die Suche eines von den Erwachsenen enttäuschten Mädchens nach sich selbst. Dafür durchstreift es in einer zweistündigen Wanderung etliche Stationen mit wundersamen Wesen und bösen Überraschungen, für die die Kostümbildnerin Ines Alda mit ihren 60 Kreationen ein Sonderlob verdient. Nicht minder Eduardo Contreras, der eine bunte, aber treffsichere Musikauswahl vom Wiener Walzer bis zu elektronischen Klängen, von eigenen Kompositionen bis zu Alfred Schnittke getroffen hat. Und das Bühnenbild der hochbegabten Britta Tonne ist ein Ereignis für sich. Eine Hausfassade bildet den Hintergrund, zusammengesetzt aus Türen, Fenstern und Schubladen, die allerlei originelle Überraschungen bereithalten und wesentlich zur Dynamik des Spiels beitragen, ohne die Bewegungsfreiheit der Tänzer auf der ins Parkett hineinragenden Tanzfläche zu beschneiden. Türen klappern, öffnen sich zu Spiegelräumen, aus Schubladen greifen Hände nach dem verunsicherten Mädchen, aus allen Ecken quellen Fantasiegestalten heraus. Ein Haus des Schreckens, der Erinnerungen und der Furcht vor der Zukunft, das sich zeitweise in ein Spukschloss verwandelt. Grelle Farben vermeiden sowohl die Kostüm- als auch die Bühnenbildnerin. Sie bevorzugen gedeckte Brauntöne, die zusätzlich einen Hauch viktorianischer Gruselromantik verbreiten.

Foto © Costin Radu

Und auch Bongiovanni hält für jede Episode, vom Solotanz der Alice bis zur überdrehten Tea Party, eine ebenso eigenwillige stilistische Lösung bereit, so dass der Abend nahezu ungetrübtes Vergnügen bereitet, ohne das Stück so zu verzuckern wie es die Essener Kollegen derzeit mit dem Nussknacker vormachen. Die Tänzer bewegen sich wie Marionetten, dann geschmeidig wie Wildkatzen, expressiv oder ausgelassen. Ein Feuerwerk an Bewegungskontrasten und -nuancen. Und alles punktgenau mit der Musik nicht nur rhythmisch synchronisiert, sondern vor allem stimmungsmäßig abgepasst.

Und dann ist das ambitionierte Tanzensemble hervorzuheben, das trotz der personalintensiven Besetzung mit drei Gästen auskommt, darunter Valentin Juteau als verführerisch-galantes Weißes Kaninchen. Zur Compagnie gehört dagegen Francesca Berruto, die eine Alice von anrührend mädchenhafter Unschuld verkörpert. Breiner lässt es sich nicht nehmen, die Rolle der bösen Herzkönigin selbst zu tanzen. Die Gesamtleistung ist so stimmig, dass unter den vierzehn Tänzern nicht ein qualitativer Ausfall zu beklagen ist. Im Gegenteil: Alle geben ihr Bestes, viele gleich in mehreren Rollen, von Ayako Kikuchi und Junior Demitre als Elternpaar bis zu Luiz Rodriguez in drei und Carlos Contreras sogar in vier Partien.

Das Premieren-Publikum feiert die Produktion des leistungsstarken Ensembles mit Begeisterung. Auch wenn es nicht als putziges Weihnachtsmärchen ausgeschmückt ist: Mit seinen Denkanstößen passt die kurzweilige und vor Fantasie überbordende Produktion trefflich in die Vorweihnachtszeit.

Pedro Obiera