Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Alle Fotos © Costin Radu

Aktuelle Aufführungen

Auf der Insel der Unseligen

PROSPEROS INSEL
(Bridget Breiners)

Besuch am
15. Oktober 2016
(Premiere am 8. Oktober 2016)

 

 

Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen

Obwohl Shakespeares letztes Drama Der Sturm in Film, Oper, Musical und Konzert auf Musiker eine fast ebenso starke Faszination ausübt wie Romeo und Julia, haben sich Choreografen bisher erstaunlich selten mit dem Stoff auseinandergesetzt. Neben Alexander Ratmanskys 2010 uraufgeführter Version für das American Ballet Theatre in New York bewegt sich Bridget Breiner mit ihrem Tanzstück Prosperos Insel auf fast konkurrenzlosem Terrain.

Während sich Ratmansky auf die Bühnenmusik von Jean Sibelius stützt und seine Arbeit mit einem romantisierenden Schleier überzieht, vertraut die ebenso ambitionierte wie erfolgreiche Ballettdirektorin des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier einer raffiniert kombinierten Musikfolge von erheblich herberem Duktus. So zart und sensibel auch einige Szenen tänzerisch angelegt sind: Durch die Musikauswahl wird jede verzuckerte Sentimentalisierung unterbunden. Die Bedeutung der Musik gerade für diese Produktion zeigt sich darin, dass die Vokalbeiträge vom vorzüglichen Jugendkonzertchor der Chorakademie Dortmund nicht nur live gesungen werden. Die etwa 30 Sängerinnen und Sänger im Alter von 13 bis 19 Jahren werden auch szenisch eingesetzt. Sie wandern in abstrakt grauen Kostümen wie Nebelschwaden geisterhaft über die Bühne, ziehen sich in den Orchestergraben zurück oder mischen sich unter das Publikum. Die fünf schwierigen Songs of Ariel des Schweizer Komponisten Frank Martin, der sich speziell mit dem Sturm intensiv und vielfältig auseinandergesetzt hat, sowie Three Elizabethan Songs von Ralph Vaughan Williams bilden das Rückgrat einer musikalischen Ausdrucksebene, die mehr bietet als eine reine tönende Kulisse. Felix Heitmann hat dabei mit den vorbildlich einstudierten blutjungen Sängern ganze Arbeit geleistet.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Ergänzt wird die vokale Folie durch irisierende Klänge aus Streichquartetten des lettischen Komponisten Pēteris Vasks und elektronisch verhüllte Klangwolken des britischen Komponisten und „Sound-Designers“ Benjamin Rimmer.

Foto © Costin Radu

Der beträchtliche musikalische Aufwand und die klug durchdachte Disposition der Stücke ist nahtlos Breiners Werksicht des Dramas angepasst. Das Schicksal des von den Verwandten aus Amt und Würden gejagten Prinzen Prospero auf der nur vom Luftgeist Ariel und dem monsterhaften Wesen Caliban bewohnten Insel, an der durch einen Zufall auch die gestrandete feindselige Gesellschaft Prosperos landet, deutet sie als Traum des Prinzen, wobei sie die Insel als Seelenlandschaft des Protagonisten versteht. Die beiden gegensätzlichen Wesen, der nach Freiheit dürstende, schwerelose Luftgeist und der plumpe, ungeschlachte Caliban, die Prospero mit kolonialer Gewalt unter Kontrolle bringen will, sieht die Choreografin als Reflexe von Prosperos eigener innerer Beschaffenheit. Die Stürme des Meeres sind als Kämpfe gegen innere und äußere, vor allem gesellschaftliche Gefahren und Konflikte zu verstehen.

Die Solotänze Prosperos, kraftvoll und nuanciert ausgeführt von Ledian Soto, bilden zentrale Pfeiler der Choreografie. Bestechend, wie feinfühlig und sorgfältig Bridget Breiner jeder Figur ein individuelles Profil zukommen lässt. Und zwar ein ausnahmslos menschliches. Selbst Caliban präsentiert sich nicht als Monster, sondern als ein unterdrücktes Wesen mit Gefühlen für die schöne Miranda, denen Breiner breiten Raum lässt. Bridget Breiner führt ihn kaum weniger sensibel als den von Miranda favorisierten Ferdinand, eine Lichtgestalt gegenüber dem geknechteten Caliban, der am Ende als Ausdruck unerfüllter Wünsche und Hoffnungen Prosperos allein auf der Bühne zurückbleibt. Dass Breiner über Shakespeare hinaus Caliban auch noch mit dessen dominanter Mutter konfrontiert, vertieft die psychologische Aufwertung der Figur. Übrigens nutzt die Choreografin die hinzugedichtete Figur, um in einigen Aufführungen selbst ihre Fähigkeiten als ausdrucksstarke Tänzerin zu demonstrieren. Entsprechend motiviert führt Valentin Juteau die Partie des Caliban aus.

Ariel, von Hitomi Kuhara auf kräftezehrender Spitze getanzt, schwebt schwerelos durch den Raum und lässt sich von Prospero erheblich unbequemer domestizieren als Caliban. Mit zierlicher Grazie gefällt Francesca Berruto als Miranda, deren klassisch zarte Pas de deux‘ mit dem adäquat tanzenden Carlos Contreras als Ferdinand zeitweise Schwanensee-Zauber verbreiten.

Insgesamt beeindruckt das enorm hohe tänzerische Niveau des gesamten Ensembles, das sich von der kreativen Energie seiner Ballettchefin beflügeln lässt. Und nicht minder beeindruckt die sorgfältige Verknüpfung von Tanz, Musik und Bühne. So wenig die Musik als klingendes Versatzstück herhalten muss, so wenig dient das Bühnenbild als beliebige Dekoration. Jürgen Kirner lässt einen schweren Felsbrocken über der Bühne schweben, der so beweglich ist, dass er phasenweise die Figuren zu erdrücken droht. Der Stein, der Prospero buchstäblich auf der Seele lastet. Der Fels wird von einem schmalen Eisenring umhüllt, der ebenso flexibel die Menschen umfasst und einengt.

Prosperos Insel wurde zwar bereits im Frühjahr im Rahmen der Ruhrfestspiele in Marl uraufgeführt. Auf der großen Bühne des renovierten Musiktheaters im Revier und mit einigen Monaten zusätzlicher Reifezeit entfaltet es sich noch eindringlicher. Damit könnte das Stück auf ebenso große Resonanz inner- und außerhalb der Region stoßen wie andere preisgekrönte Arbeiten der Choreografin, die die rege Tanzszene im Rheinland mit einer qualitativen Stabilität und kreativen Dynamik bereichert wie wenige andere, teils größere Tanztheater.

Der Beifall des aufmerksam folgenden Publikums fiel entsprechend begeistert aus.

Pedro Obiera