Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Thomas Kost

Aktuelle Aufführungen

Stimmfach unerheblich

LUCIO CORNELIO SILLA
(Georg Friedrich Händel)

Besuch am
13. November 2016
(Einmalige Aufführung)

 

Tage Alter Musik in Herne,
Kulturzentrum

Alle Jahre wieder finden im November die Tage Alter Musik in Herne statt. An verschiedenen Spielstätten in der Stadt führt die Klassikwelle des Westdeutschen Rundfunks Schätze der Alten Musik auf. Höhepunkt und krönender Abschluss des viertägigen Festivals ist eine konzertante Opernaufführung im Kulturzentrum.

Die streng konzertante Anordnung wird in diesem Jahr erstmals bewusst aufgebrochen. Richard Lorber, Künstlerischer Leiter des Festivals, reagiert damit auf ein in den vergangenen Jahren nachlassendes Interesse des Publikums. Angedeutete Gesten, durchchoreografierte Ortswechsel der Sänger und einige wenige Textprojektionen auf den schwarzen Bühnenhintergrund sollen helfen, die Geschichte um Lucio Cornelio Silla zu visualisieren und damit auch für das Publikum packender zu gestalten. Zudem wird das Licht im Saal lediglich heruntergedimmt, so dass die Zuschauer das Libretto zweisprachig im Programmbuch mitverfolgen können.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Uraufgeführt wurde Georg Friedrich Händels Oper in drei Akten 1715 in London. Neben dem Umstand, dass es sich damit um Alte Musik handelt, eignet sich diese Opera seria als schönes Lehrstück für das enge Kompositionskorsett, dem diese Gattung unterworfen war. Schön insbesondere deshalb, weil Händel starke französische Einflüsse in der Musik zulässt.

Dorothee Oberlinger begeistert. - Foto © Thomas Kost

Mit der Aufführung in Herne wurde niemand Geringeres als Dorothee Oberlinger beauftragt, die als eine der weltbesten Blockflötistinnen und ausgewiesene Expertin für Alte Musik gilt, hier aber erstmalig als Dirigentin einer vollständigen Opernaufführung in den Vordergrund tritt. Versüßt wird ihre Aufgabe durch die Wahl des Orchesters. Es ist ihr Ensemble 1700, Musiker, mit denen Oberlinger seit mehr als einem Jahrzehnt regelmäßig zusammenarbeitet. Die eigentliche Herausforderung sieht die Musikerin denn auch weniger im Dirigat als im Zusammenspiel mit den Sängern. Die allerdings löst sie mit Bravour.

An der Rampe trifft sich eine illustre Schar von Sängern, die sich allesamt intensiv mit der Aufführungspraxis Alter Musik auseinandergesetzt und zusätzlich den Anweisungen von Margit Legler in historischer Gestik unterzogen haben. Und so wird auch dieser Teil des Abends zum Lustgewinn.

Ganz nebenbei zeigt er, welch ein marginales Hilfsmittel die Einteilung in Stimmfächer ist. So treten an diesem Abend zwei Countertenöre, drei Soprane, ein Alt und ein Bass auf, behauptet der Besetzungszettel. Tatsächlich sind sieben höchst individuelle Stimmen zu hören, die sich einer Einordnung aufgrund ihrer Kunstfertigkeit entziehen. Countertenor Dmitry Sinkovsky gibt Silla die höchst eigene Färbung des Erfolgreichen, der doch vergebens um die Macht kämpft, während Countertenor Philipp Mathmann mit seiner eher lyrischen Stimme den wahren Machthaber Lepido verkörpert, der seinen Status nicht aus einem Anspruch heraus, sondern inneren Werten folgend der wirkliche Herrscher ist. Als Metella zeigt Anna Dennis nicht nur äußerlich königliche Würde und Haltung. Da steht die Stimme stolz mit silbernem Glanz trotz allen Grams. Wie anders Keri Fuge als Flavio oder noch anders Stefanie True als Celia, ebenfalls als Soprane eingeordnet, die eine männlich orientiert, die andere eher als junges Liebchen. Vielleicht ist diese Einordnung wirklich grundsätzlich zu hinterfragen, wenn man beispielsweise der Altistin Helene Rasker als Claudio lauscht, die mit extrem individueller Stimmlage das Publikum begeistert. Möglicherweise längst überholten Kategorien am nächsten kommt noch Thomas Hansen, der Mars einen göttlichen Bass verleiht.

Das Publikum ist zu Recht hingerissen. Vom minutenlangen Applaus über Füßetrampeln bis zu stehenden Ovationen belegt, dass dieser Abend als Gesamtleistung überzeugt. Und die Geschichte dieser Aufführung ist damit keineswegs beendet. Sie wird sich kaskadenförmig weiterentwickeln, bis sie Mitte kommenden Jahres als Inszenierung in Ludwigsburg gezeigt wird. Schon nach der konzertanten Aufführung ist Thomas Wördehoff, Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele, der sich die Erstaufführung in Herne nicht entgehen lässt, geradezu euphorisch.

Auch Lorber sieht sich in seinem Strategiewechsel bestätigt. Und blickt optimistisch in das nächste Jahr, wenn das Motto der Tage Alter Musik in Herne Reform und Revolte heißt. Da fallen schon jetzt Stichworte wie Marsellaise und Kirchenreform. Die Oper wird es auch wieder geben. Nur verspielter noch. Ein gutes Signal.

Michael S. Zerban