Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Falk von Traubenberg

Aktuelle Aufführungen

Die badische Hermannsschlacht

ARMINIO
(Georg Friedrich Händel)

Besuch am
13. Februar 2016
(Premiere)

 

 

Badisches Staatstheater, Karlsruhe

Brigitte Fassbaender und Theo Adam dürften die bekanntesten Beispiele unter den wenigen Künstlern für die Fähigkeit sein, ihre bereits fortgeschrittene oder beendete Karriere im Fach Operngesang um die Weiterentwicklung hin zum Metier der Opernregie zu erweitern. Der Countertenor Max Emanuel Cencic, spiritus rector von Neuentdeckungen etlicher Kompositionen des 18. Jahrhunderts für das Musiktheater, wagt seit geraumer Zeit eine couragierte Abkürzung des Weges in die Multifunktionalität. Gerade 39-jährig, hat der Ausnahmekünstler nach Siroe von Johann Adolph Hasse jetzt zum Auftakt der Internationalen Händel-Festspiele am Badischen Staatstheater seine zweite Produktion in der Doppelrolle als Regisseur und Darsteller der Titelpartie vorgestellt: Arminio, jene ungeachtet der Händel-Renaissance der letzten einhundert Jahre weitgehend vergessene historische Frivolität aus der für den Theaterunternehmer Händel heiklen Übergangszeit von der italienischen Oper zum englischen Oratorium. Ob Cencic, in lyrischen Partien seiner edlen Spezialität eine anerkannte Kapazität, sich einen Gefallen erweist, große Energien in die Sparte Inszenierung zu investieren, dürfte nach seinem Karlsruher Debüt wohl offenbleiben. Aufgedrängt hat sich wahrlich nichts, ihn darin zu bestärken.

Michael Fichtenholz, der Karlsruher Opernchef und zugleich Leiter der Festspiele, meint, wenn ein Sänger auf der Bühne gleichzeitig ein Stück inszeniere, sei das „sein gutes Recht, denn der Komponist spricht ohnehin durch ihn“. Wird derselbe Aspekt nicht unter einem Vorzeichen der Legitimation gesehen, sondern dem der künstlerischen Qualität, verschiebt sich das Parallelogramm der wertenden Kriterien gehörig. Warum überhaupt der Rückgriff auf ein Werk mit einem schwachen Libretto, das ausgehend von einem Text Antonio Salvis mehrere Überarbeitungs- und Kürzungsprozeduren durchlaufen hat? Das nach der verhalten aufgenommenen Uraufführung 1737 an Covent Garden gerade noch fünf mäßig besuchte Vorstellungen erlebt? Nun gut, die Händel-Festspiele im Badischen schreiben sich das Charakteristikum zu, ein Ort und „Markenzeichen der Wiederentdeckung selten oder fast nie gespielter Meisterwerke Händels“ zu sein. Passend dazu die Einschätzung Cencics, der die Partitur als „eine der besten Opern, die Händel je geschrieben hat“, rühmt. Doch gilt es nicht allein, den Wohlklang zu rekonstruieren, sondern erst einmal den Stoff für das Publikum plausibel zu vermitteln.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Arminio ist kein Geringerer als Hermann der Cherusker, der neun nach Christus in der mythischen Schlacht im Teutoburger Wald und im Osnabrücker Land die Heerscharen des römischen Imperators Augustus unter ihrem Oberbefehlshaber Varus besiegt und Germanien, dem Nukleus deutscher Lande, staatliche Autonomie verschafft. Dieses Geschehen ist bei Händel die theaterwirksame Folie für die so beliebte dramatische Kollision von Kulturen, Lebensstilen und amourösen Verwicklungen. Zu erleben sind zwei Paare – vergröbernd gesagt: eines der Seria -, eines der Buffo-Spezies, Varus und der ihm ergebene Hauptmann Tullio sowie als Schlüsselfigur Segeste, Arminios Schwiegervater, ein Intrigant und enger Vertrauter der Römer. Es ist sicherlich nachvollziehbar, wenn Cencic das Geschehen nicht in der historischen Wald- und Hügellandschaft mit Cheruskern und Chauken in Sandalen spielen lässt. Und auch nicht zum Zeitpunkt des Entstehens der Komposition, was unter Opernregisseuren ja häufig ein beliebter Kunstgriff ist.

Foto © Bernhard Schmitt

Auf der Karlsruher Bühne ereignen sich die militärischen wie die erotischen Schlachten, der Kampf gegen fremde Despoten und für das Recht auf eigene Identität, politisch wie privat, zur Zeit der Napoleonischen Kriege. Badener und andere Stämme im Rheinland bieten der Okkupation die Stirn. Als Regisseur, erklärt Cencic seinen Ansatz, habe er etwas finden wollen, womit sich das Publikum heute identifizieren könne. In der Parallelität des Systemwechsels der Verhältnisse, einst in Germanien, dann in der Karlsruher Lokalgeschichte, habe er genau diesen Punkt gefunden. So erinnere – pars pro toto – die Flucht Arminios und seiner Tusnelda am Anfang der Oper an die Ludwigs XVI. und Marie-Antoinettes 1791 aus Paris. Dem Publikum wird so ein Spiel mit Zeitbrüchen zugemutet, das sich ihm ohne eingehende Vorkenntnisse kaum erschließt. Eine An- oder schon eine Überforderung? Hermann dem Cherusker droht der Tod ausgerechnet durch die Guillotine, der im Finale letztlich dann Segeste ereilt. Das ist paradox, irritierend, aber auch nicht mehr.

Das Bühnenbild und die Kostüme, die Helmut Stürmer, letzteres zusammen mit Corina Gramosteanu, für das Dramma per musica ersonnen haben, entfalten zwar ihren Reiz, erleichtern wegen der auch hier durchgängigen Stilbrüche die Orientierung aber nicht. Allerlei hochherrschaftliches Mobiliar ist auf der Karlsruher Drehbühne aufgeboten, Glas, Licht- und Spiegeleffekte tun ein Übriges, die Illusion einer Welt zu kreieren, in der der Versailler Glanz mit dem grauen Leder römischer Vasallen harmoniert. Die hier gut getroffenen Erscheinungsformen der Eliten des 18. Jahrhunderts – Perücke, Puder, Beinkleider und farbige Strümpfe etwa bei den Männern – reproduzieren letztlich das Corporate Design der italienischen Barockoper, was den Gesamteindruck einer Opulenz der Beliebigkeit noch unterstreicht.

Cencic hat bei seiner Inszenierung, wie zu hören ist, auf die engagierte Unterstützung von Seiten der Regieassistentin Angela Kleopatra Saraglou gebaut. Der Plot im Stil des „Konversationsstücks“ aus der Epoche Händels bietet mit seinem weit gespannten Spektrum tragischer wie komischer Versatzstücke eine Fülle an Gelegenheiten für Slapstick, Parodie und mimische Köstlichkeiten. Dass gleich mehrfach nach dem anscheinend unverzichtbaren Regiemittel der angedeuteten Kopulation gegriffen wird – geschenkt. Das Eigentliche, die Erwartung im Sinne des Karlsruher Operndirektors, löst sich indes nicht ein. In jeder Barockoper ist die Personenregie eine große Herausforderung, sollen sich die Gesten bei den langen Arien nicht in einem Händeringen erschöpfen. Im zweiten Akt, um ein Beispiel zu nennen, singt Arminio mit gebundenen Händen, er sei gefasst, in den Tod zu gehen. Kaum ist die erste Strophe dieses Seelenoutings bewältigt, wird er abgeführt, um sogleich aus der Kulisse wieder aufzutauchen und den zweiten und dritten Teil zu singen. Cencic, der Sänger, weiß natürlich, dass die Arie ihren dreistufigen Aufbau und ihre Pausen hat, womit der Regisseur Cencic sein Spiel treiben kann. Ein wirklicher Einfall ist das nicht.

Musikalisch erfüllt die Premierenproduktion der 39. Karlsruher Händel-Festspiele hingegen die Erwartungen, übertrifft sie womöglich gar. Ist Arminio in der Geschichte schon der strahlende Held, so ist es der Sänger der Titelpartie ebenso. Die Stimme des Counters betört, bestätigt prinzipiell all die Attribute, die ihr zugeschrieben werden. Sie hat ein höchst angenehmes Timbre, ist in den lyrischen Ausdrucksformen subtil und filigran, in den expressiven Passagen geschmeidig und kraftvoll. Souverän meistert Cencic die vielfachen Aufstiege in schwindelnde Höhen. Was die Titelpartie angeht, widerlegt er das Urteil des Händel-Zeitgenossen Winston Dean, vieles in der Partitur erinnere „an Sachen, die Händel zuvor besser gesagt hat“. Was die vokale Performance insgesamt betrifft, bleibt an diesem Abend dennoch ein merkwürdig zwiespältiger Eindruck zurück. Etwas an der sonst so fesselnden Ausstrahlung fehlt, etwas schwer Bestimmbares, geschuldet womöglich der Doppelverantwortung, die die Konzentration immer auf zwei unterschiedliche Schauplätze zwingt.

Erfreulicherweise bringt es die Besetzungspolitik dieser bereits auf CD eingespielten Produktion mit sich, dass sich mit Vince Yi noch ein Counter die Ehre gibt, der ebenfalls zur Champions League seiner Profession zählt. Yi, an der Seite Cencics und weiterer Counterstars schon 2014 in Vincis Artaserse an der Oper Köln umjubelt, gestaltet die von Händel für die höchste Kastratenkategorie geschriebene Partie des Sigismondo mit Charme, Verführungsreichtum und vokaler Raffinesse. Schlechthin große Klasse! Ergänzt wird dieser Eindruck noch durch den Spielwitz Yis, der das semi-feminine Artifizielle dieser Barockexistenz im engeren Sinne bis hin zur Selbstverleugnung manifestiert.

Glanzleistungen und etliche Bravourstücke liefern auch die Sängerinnen, die Sopranistin Layla Claire als Tusnelda und der Mezzo Ruxandra Donose, die sich als Ramise, Schwester Arminios, von Sigismondo umturteln lässt. Ein Höhepunkt ihrer Vokalkunst: die Vereinigung der beiden korrespondierenden Stimmen in einem innigen Duell, das sich aus dem Piano zu Belcanto-Schmelz hochschraubt. Der erste Römer im Personal, Juan Sancho als Varo, überzeugt mit seiner vehementen  Tenorstimme, Pavel Kudinov stemmt die ambivalente und durchaus strapaziöse Partie des Segeste mit seinem mächtigen Bass. Owen Willetts ist ein adäquater Tullio.
Unter ihrem Dirigenten George Petrou agieren die mit feinem Barock-Gespür agierenden Musiker des Ensembles Armonia Atenea auf Festspiel-Level, erzeugen ein Charisma, das Händels kompositorische Qualitäten einmal mehr belebt.

Das Premierenpublikum, schon unterwegs immer wieder Beifall spendend, feiert nach dem eher verhaltenen Finale in Moll die Mitwirkenden mit Ausdauer und Begeisterung, einige anhaltende Buhrufe dabei mühelos übertönend. An die vier Stunden hat die Dauer der Aufführung herangereicht. Ging es allein nach quantitativen Maßstäben – gewiss ein Erfolg, der selbst die Vorstellungskraft des von der Londoner Opernmüdigkeit geplagten Händel überstiegen hätte. In der Ära Fichtenholz ist dieser Arminio eine achtbare Zwischenstation. Der Händel-Experte will mehr und, wie er sagt, das Festspielprofil des Staatstheaters weiter schärfen. Beweise mögen folgen.

Ralf Siepmann