Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Alle Fotos © Klaus Lefebvre

Aktuelle Aufführungen

Kammerdrama in Mammuthalle

THE RAPE OF LUCRETIA
(Benjamin Britten)

Besuch am
20. Januar 2016
(Premiere)

 

 

Oper Köln

Mit Benjamin Britten an ungewöhnlichen Spielorten hat die Kölner Oper in ihrer nicht enden wollenden Exil-Ära gute Erfahrungen machen können. The Turn of the Screw in der Trinitatiskirche gehört zu den besten Produktionen der letzten und nicht immer glanzvollen Kölner Jahre. Jetzt ist das Staatenhaus 3 auf dem Kölner Messegelände Schauplatz von Benjamin Brittens erster erfolgreicher Kammeroper The Rape of Lucretia, deren deutsche Erstaufführung 1948 übrigens in Köln stattfand. Die missverständliche deutsche Übersetzung als „Raub der Lucretia“ mildert die englische Bedeutung, die recht eindeutig auf eine Vergewaltigung hinzielt. Nur ein Jahr nach Brittens Durchbruch als Opernkomponist mit Peter Grimes bildet die 1946 uraufgeführte, kammermusikalisch schlicht ausgelegte Lucretia einen Gegenentwurf zum aufwändigen See-Drama. Das setzt auch voraus, dass das Publikum in möglichst große Nähe zum Geschehen gerückt werden kann. Genau das jedoch ist im Staatenhaus kaum möglich.

Die überschaubare Spielfläche ist in einer Mammuthalle angesiedelt, wirkt unpersönlich, die Figuren agieren teilweise in großer Distanz zum Publikum, das kleine Orchester klingt aus der Ferne und lässt die Feinheiten der delikaten Partitur nur partiell wahrnehmen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Das ist schade, bietet doch gerade diese Neuinszenierung ein geeignetes Tummelfeld für den musikalischen und szenischen Nachwuchs. Der Großteil des Ensembles setzt sich aus hoch talentierten Mitgliedern des Kölner Opernstudios zusammen und auch die Regisseurin Kai Anne Schuhmacher, die bisher vor allem mit guten Produktionen in der Kinderoper hervorgetreten ist, kann sich hier beweisen.

Foto © Klaus Lefebvre

Trotz des dramatischen Titels stehen Diskurse über die Liebe im Vordergrund der Handlung. Und zwar aus der martialischen Sicht der Männer und der sensibleren Perspektive der Frauen. Der etruskische Prinz Tarquinius streitet sich mit den Generälen Junius und Collatinus über die Treue der Frauen. Junius und Tarquinius ärgern sich, dass nur Lucretia, die Gattin des Collatinus, während der Abwesenheit der Soldaten jeder sexuellen Versuchung widerstanden hat. Tarquinius, der verwöhnte Sohn des Etruskerkönigs, fühlt sich von der keuschen Schönheit Lucretias angezogen und nimmt sie am Ende mit Gewalt, woraufhin sich Lucretia umbringt.

Die Regisseurin hat Recht, wenn sie offenlässt, wie man sich die gewaltsame „Eroberung“ konkret vorzustellen hat. Eine Prise Interesse an dem groben Prinzen lässt die treue Gattin durchaus erkennen. Auch das Libretto äußert sich nur vage dazu und dieser einzige dramatische Höhepunkt wird recht kurz gehalten. Der Gewaltakt findet im Verborgenen hinter einer Zeltplane statt. Interessant, dass gerade eine Regisseurin darauf bedacht ist, Lucretia nicht heiligzusprechen, sondern sie als durchaus blutvolle, junge Frau darzustellen.

In der präzisen Charakterisierung aller, wirklich aller Figuren liegt die Stärke der Inszenierung. Der aufbrausende Junius, der noble Collatinus, Bianca, die besorgte Amme Lucrezias und Lucia, die kapriziöse, Amor-ähnliche Dienerin: Sie alle weisen ein ausgefeiltes Profil auf und werden von Schuhmacher exzellent geführt. Nicht zu vergessen die auf je eine Rolle reduzierten Vertreter des Herren- und Damenchors, die die kommentierende Funktion eines griechischen Tragödien-Chors einnehmen.

Geschickt geht die Regisseurin dem räumlichen Problem aus dem Weg, indem sie die Figuren lange Wege in stoischer Ruhe gehen lässt und die archaische Distanz, die das emotional kühle Werk ausstrahlt, unterstreicht. Die merkwürdigen Assoziationen des Leidens der geschändeten Protagonistin mit der Passion Christi, die der Text ausdrückt, werden zum Glück nicht illustrativ herausgekehrt. Der rituelle Charakter des Stücks bleibt dennoch gewahrt.

Das optische Zentrum bildet ein Teich, in dessen Mitte anmutig die Harfenistin Jie Zhou residiert. Ein Szenario, das den Eindruck eines arkadischen Idylls hervorruft. Im Verlauf des Stücks räumt die Musikerin ihren Platz, und der kleine See füllt sich bis zum bitteren Ende mit Unrat. Gespielt wird meist an zwei Ufern, um die herum auch die Zuschauertribünen postiert sind. Man sieht dadurch eigentlich nur immer die Hälfte des Spiels in der an sich nötigen Nähe zu den Akteuren.

Dem Dirigat Rainer Mühlbachs ist anzuhören, dass er sich um eine transparente Umsetzung der feingestrickten Partitur bemüht. Umso bedauerlicher, dass viele Details in dem riesigen Raum verlorengehen Das betrifft zum Glück weniger die Sänger, die sich ohne besonderen Kraftaufwand gegen das Gürzenich-Orchester durchsetzen können. Das kommt den blutjungen Talenten aus dem Opernstudio entgegen.

Was Judith Thielsen der Titelrolle an Eindringlichkeit und stimmlicher Schönheit abgewinnt, verdient höchste Anerkennung. Immerhin hat Britten die anspruchsvolle Partie niemand Geringerer als Kathleen Ferrier in die Kehle geschrieben. Auch die beiden männlichen Gegenspieler, In Sik Choi als Tarquinius und Matthias Hoffmann als Collatinus, gehören dem Opernstudio an. Zwei exzellent ausgebildete, spielfreudige Baritone mit individuellen Timbres. Hoffmann überzeugt als nobler Kavalierbariton, der Koreaner als konditionsstarker Draufgänger mit mächtigem Organ. Mit stimmlicher Gewandtheit formt Dongmin Lee die agile Rolle der Lucia und Taejun Sun sowie Justyna Samborska artikulieren die Chorpartien mit vorbildlicher Präzision.

Nur Christian Miedl als Junius und Gabriella Sborgi als alte Amme gehören nicht zum Kreis des Opernstudios. Sie füllen die Rollen mit ihrer Erfahrung nicht minder überzeugend aus.

Das Publikum folgt der 75-minütigen Produktion aufmerksam und geizt nicht mit herzlichem Beifall.

Pedro Obiera