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Foto © Ida Zenna

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Requiem total

MOZART REQUIEM BALLETT
(Mario Schröder)

Besuch am
24. April 2016
(Premiere am 8. März 2014)

 

 

Oper Leipzig

Tak-Tak klingt es aus Lautsprecher-Boxen, noch bevor der Vorhang hochgeht. Metronome stehen auf der Bühne und schlagen mit unterschiedlichen Tempi. Zwei rechtwinklige, U-förmige, mobile Lichtleisten rahmen Tänzer des Leipziger Balletts ein, die auf Schaukeln über den Boden zu schweben scheinen. Engelsgleich zelebrieren sie tanzend und schaukelnd die Zeit.

Zwischen den Metronomen, die symbolisch für Chronos, die gemessene Zeit stehen, verwinkeln und ballen sich die Körper der Tänzer zu gestisch unterstützten Bildwelten. Mario Schröder, Ballettdirektor der Compagnie, sucht mit seiner Choreografie zu Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem in d-Moll, KV 626, nach einer anderen Zeitstruktur: Kairos, die gelebte, endliche Zeit.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Nicht das Requiem als Totenmesse, als Abgesang auf das physische Leben im engeren Sinne, ist Schröders Referenzpunkt für seine Choreografie. Zentral liegt ihr etwas Existenzielles zugrunde. Das alltägliche Scheitern im Leben, zu Grabe getragene Liebesbeziehungen, sich nicht erfüllende Ziele in der Lebenszeit.

Foto © Ida Zenna

Für viele Künstler sind das essentielle Erfahrungen. Mozarts Requiem blieb unvollendet. Er starb darüber. Mit dem achten Takt des Lacrimosa bricht die Komposition tränenreich ab.

Das hat zu einer reichhaltigen Mythenbildung über die Umstände seines Todes geführt und interessiert Schröder in ihrer parallelen Essenz zu dem nie aufgeklärten Tod von Pier Paolo Pasolini. Zwei Tode, 1791 und 1975, Bleivergiftung und Mord, arm der eine, homosexuell der andere, beide als Künstler  essentiell lebend, wirken sie über ihre Zeit hinaus bis heute nachhaltig.

In diesem Spannungsfeld begegnen sich auf der Opernbühne in Leipzig der Chor der Oper Leipzig mit den großartigen Solisten Olena Tokar, Sopran, Karin Lovelius, Alt, Patrick Vogel, Tenor, und Milcho Borovinov, Bass, musikalisch geführt von Jeremy Carnall am Pult des Gewandhausorchesters, und mehr als 30 Tänzer. Alessandro Zuppardo, der als Chordirektor zu allererst verantwortlich für einen auf den Punkt disponierten Chor ist, spricht zugleich Texte aus Pasolinis Schrift L’Usignolo della Chiesa Cattolica von 1958, einer radikalen Abrechnung mit der katholischen Kirche auf Italienisch und Deutsch.

Zuppardo interpretiert Pasolinis hochemotionale, gesellschaftskritisch sezierende Texte nicht nur mit einer sonor souveränen Sprachkultur, er wird zum Schluss Teil der Choreografie. Zusammen mit der Ballerina Laura Costa Chaud geht er, den Erben Pasolinis und Mozarts gleich, gemeinsam ins Kairos-Licht. 

Der 16-köpfige Herrenchor, präzise einstudiert von Alessandro Zuppardo, zeigt nicht nur sängerisch erste Güte, sondern beeindruckt durch ein engagiertes und manchmal auf Slapstick und Sitcom getuntes Spiel. Bei der Komplexität dieser Inszenierung eine außergewöhnliche Leistung, die durch die Choreographie von Friedrich Bührer erst möglich wird.

Nach der choreografierten Metronom-Ouvertüre geben Introitus und die Kyrie-Doppelfuge des Requiems die musikalische Richtung vor. Der im Orchestergraben, links und rechts geteilt,  leicht erhöht postierte Chor verbindet einen opernhaft dramatisch grundierten Klang mit barockem Glanz.  Das Gewandhausorchester in barock reduzierter Instrumentation mit zwei Bassetthörnern, zwei Fagotten und Posaune entwickelt eine dunkle, weich temperierte Klangfarbe. Dieses Timbre des Anfangs bestimmt das gesamte Requiem. Carnall betont mit seinem Dirigat dezidierte Generalpausen, die die musikalischen Spannungsbögen auskosten.

Die Pausen für die Pasolini-Texte sind Haltepunkte, die in der Musikalität der Sprache und den choreografischen Kreisbewegungen still weiter geführt werden. Vor auf den Hintergrund projizierten Videosequenzen aus Pasolinis Theorema, eingerahmt und gleichzeitig mobil durch Lichtleisten verschoben, tanzt die Ballett-Compagnie das Requiem als Hommage an das Leben.

Solistische Parts beispielsweise von Madoka Ishikawa in Rex Tremendae und Urania Lobo Garcia im Sanctus wechseln sich mit unterschiedlich großen Tanzformationen ab. Ausdruckstänzerische Verschiebungen, die in ihrem Wechsel von Bewegung und Pose, vom Spitzentanz zu Laufbewegungen, vom In-sich-Verharren zu kraftvollen Drehbewegungen das Metrum Zeit umkreisen.

Das nach dem Lacrimosa von Franz Xaver Süßmayr vervollständigte Requiem atmet nahe an Mozarts Musik – und wirkt gleichzeitig doch anders. An diesem Übergang offenbart sich die kongeniale Zusammenarbeit von Schröder und Carnall. Musik, Tanz und Text bilden hier mit Pasolinis Ex Vita – „Oh Individuum, oh Doppelgänger, bist du gemacht aus mir, aus meiner Wärme, und feindselig durch einen Tod, der meinem Sterben vorausging“ – eine deutliche Zäsur, die aber keineswegs zum Bruch wird. Der Mythos Zeit endet nicht mit dem Tod. Es beginnt etwas Neues. Es öffnet sich ein Imaginationsraum, den Konzert-Ballett-Besucher nur allein ausleuchten können.

Die Lichtgestaltung von Michael Röger arrondiert Andreas Auerbachs Bühnen- und Video-Struktur als temporäre Räume, in denen Mozarts Requiem in eine künstlerische Totale projiziert wird.

Die Inszenierung überzeugt im besten Sinne als Gesamtkunstwerk von Musik, Tanz und Sprache. Eine 80-minütige, ungemein dichte Aufführung, die es schafft, eine kontemplative Aufmerksamkeit bis zum letzten Ton des Lux Aeterna zu erzeugen, bekommt berechtigt zum Schluss nicht endenden wollenden Applaus.

Peter E. Rytz