Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ros Ribas

Aktuelle Aufführungen

Nachwuchs mit Volldampf

UN BALLO/WAD RAS/MINUS 16
(Jiří Kylián/Montse Sánchez,
Ramón Baeza/Ohad Naharin)

Besuch am
17. März 2016
(Einmaliges Gastspiel)

 

Erholungshaus Leverkusen

Opernsänger und Tänzerinnen haben nach ihrem Studium ein ähnliches Problem. Wie sollen sie gescheit in das Berufsleben starten? Für die Sängerinnen und Sänger gibt es das Opernstudio – eine zweijährige Mischung aus Weiterbildung und erster praktischer Bühnen- und Konzert-Erfahrung. Für den Tänzer-Nachwuchs gibt es Ähnliches, nur nennt sich das nicht Tanzstudio. Am Theaterinstitut in Barcelona beispielsweise nennt sich die junge Tanzgruppe IT Dansa, versteht sich als Post-Graduierten-Kurs und dauert ebenfalls zwei Jahre. Catherine Allard, die Künstlerische Leiterin des Lehrgangs, traut sich was. Sie schickt ihre Zöglinge gleich auf Tournee. Und so landen die für einen Abend im Leverkusener Erholungshaus. Das Publikum reagiert verhalten und füllt den Saal eher mäßig. Zu Unrecht.

Denn natürlich wird man vom Nachwuchs nicht das Können eines Tänzers mit jahrelanger Erfahrung erwarten. Aber Allard bedient sich eines Kunstgriffs. Sie lässt die jungen Leute ältere Werke bekannter Choreografen aufführen, die es in sich haben.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Einen eher gelassenen Auftakt gibt es mit Jiří Kyliáns getanztem Ball zur Musik-Konserve von Maurice Ravel. Der Clou sind die Kostüme von Joke Visser. Lange, schwarze Kleider der Damen erlauben allerhand Spielereien. So entstehen Tanzfiguren, bei denen die Röcke als Vorhang fungieren. Das ist nicht überragend anspruchsvoll, aber einfallsreich. Kylián sucht auch gar nicht erst nach größeren Zusammenhängen, sondern will einen Tanz inszenieren, bei dem die Eleven ihre Musikalität unter Beweis stellen. Das gelingt den zehn Tänzerinnen und Tänzern auch durchweg ordentlich im Halbdunkel von Joop Caboort, und ist adrett anzusehen.

Foto © Ros Ribas

Weit vom Tanz entfernt sich das effektvolle Rhythmus-Stück von Montse Sánchez und Ramón Baeza. Wad Ras, so heißt das Frauengefängnis von Barcelona. Und so ist auch das Stück benannt, das für sechs Tänzerinnen entwickelt ist, die keine Geschichte erzählen, sondern Alltagssituationen widerspiegelt, die im stampfenden Rhythmus der Eintönigkeit Laut geben. Einspielungen der Musik von Antonio Martinez Nono dienen nicht als Ersatz von Live-Musik, sondern der Ergänzung der geklatschten und auf Holzkisten getrommelten Rhythmen. Sehr gekonnt. Ein paar Tanzbewegungen komplettieren den Auftritt – und es hätte in den Hell-Dunkel-Kontrasten, die Peni Barratxina mit seinem Licht schafft, so richtig schön werden können. Wenn, ja, wenn aus den Tänzerinnen nicht in dieser Aufführung Tänzer geworden wären. Aber bitte, der Applaus am Ende des Stücks zeigt, dass zumindest die Damen im Publikum durchaus mit dem Geschlechtertausch einverstanden sind.

„Jeder kann tanzen.“ Das ist die Devise von Choreograf Ohad Naharin, der das gesamte Ensemble auf die Bühne zitiert. Allerdings bietet er kein geschlossenes Stück, sondern sieht im schwarzen Anzug als Kostüm das verbindende Element. Dass er alsbald aufbricht, wenn er die Tänzer einen – starken – Strip auf einem Stuhl vollziehen lässt, der freilich beim Trikot endet. Sein Faible für konvulsivische Zuckungen durchzieht die halbe Stunde, in der das Ensemble zwischendurch auch ausschwärmt, um Publikum zum Tanz auf die Bühne zu holen. Beim Cha Cha gibt es nicht nur animierende Tanzschritte zu sehen, sondern auch die begeisterte Reaktion des Publikums, das sitzen geblieben ist, zu erleben. Tosender, warmherziger Applaus begleitet die Mutigen auf der Bühne und erspart ihnen so die Peinlichkeit des Vorgeführtwerdens. Nach einer klugen Pointe gibt es eine Applausordnung, die man so wohl nicht jeden Tag erlebt. Naharin baut die Verbeugung in die Zugabe ein – oder umgekehrt?

Das Publikum bietet alle erdenklichen Kräfte auf, sich für einen originellen, abwechslungsreichen und mitreißenden Abend zu bedanken.

Michael S. Zerban