Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Jürgen Weller

Aktuelle Aufführungen

Von hohem Rang

DIE KINDER DES OLYMP
(Andreas Kriegenburg)

Besuch am
8. März 2016
(Einmaliges Gastspiel)

 

 

Erholungshaus Leverkusen

Im 18. Jahrhundert war der Boulevard du Temple in Paris der Geburtsort des Boulevardtheaters. In absteigender Wertigkeit fanden sich hier die ersten Häuser verschiedener Kategorien. Auf der einfachsten Stufe gab es das Théâtre des Funambules, das später Berühmtheit erlangte, weil hier der Pantomime Jean-Gaspard Debureau die poetische Figur des Pierrots erfand. Die Häuser als feste Institutionen lösten die Jahrmarktstheater ab, waren aber noch stark von deren Einflüssen geprägt. Es war also durchaus nicht ungewöhnlich, auf einen Stelzenläufer oder andere Artisten zu treffen. Unterhaltung für alle. Selbst für die Armen. Die kamen auf die höchsten Ränge und wurden Les Enfants du Paradis genannt: Kinder des Olymps. Denen setzte 1945 Marcel Carné mit seinem Film nach dem Drehbuch von Jacques Prévert im übertragenen Sinne ein Denkmal.

Regisseur Jochen Schölch orientiert sich glücklicherweise nicht an der filmischen Vorlage, wenn er das Stück in der Bühnenbearbeitung von Andreas Kriegenburg inszeniert. Vielmehr versucht er sehr gekonnt, die historische Situation spielerisch umzusetzen. Dazu hat Thomas Flach eine kongeniale Bühne entwickelt. Zwei Stühle – für die Musiker – ein Vorhang, ein paar Bettlaken, das war es im Prinzip. Was allerdings Schölch und Flach aus dem Vorhang machen, wie sie die Pantomime immer wieder unauffällig in den Mittelpunkt rücken, das sieht man nicht so oft. Tatsächlich gelingt es ihnen, dem unkundigen Publikum jederzeit verständlich zu machen, auf welcher Handlungsebene und vor allem an welchem Spielort es sich gerade befindet: Bühne, Backstage, Zimmer in einer Pension, Loge, Nebeneingang zur Bühne – viel mehr noch wird glasklar deutlich. Und wer für derlei Nuancen keinen Blick hat, darf sich an den Kostümen von Sanna Dembowski erfreuen. Die sind fantasievoll, bunt und bis zur letzten Perücke durchdacht, wenn man von der Rolle der Nathalie absieht. Nicht ganz so durchschaubar sind die Lichtwechsel von Hans-Peter Boden, die sich meist auch nur filigran vollziehen. Jedenfalls sind sie so stimmig, dass sie sich harmonisch einfügen und nicht weiter auffallen. Im Wechsellicht der Gefühle bewegen sich die Schauspieler, sehr genau von Schölch durch viele Rollen geführt. Und hätten Kriegenburg und er sich die Slapsticks gespart, hätte das Stück noch einmal gewonnen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Allerdings spielt das Ensemble auch die rüden Stellen gekonnt, so dass alles im erträglichen Rahmen bleibt. Sonst bleibt nur Lob. Im Mittelpunkt der Handlung steht Garanca, die gleich von vier Männern umschwärmt wird. Judith Toth spielt stimmig, wird aus den Albernheiten herausgehalten und hat mehr als ein paar wichtige Sätze, die in ihrem Vortrag unter die Haut gehen. Sehr gekonnt vollzieht sie die Entwicklung von der dauerlächelnden, unbedarften, lebenslustigen, jugendlichen Garanca bis zu jener gereiften, liebenden und letztlich gescheiterten Frau, der man das Schicksalhafte abnimmt. Sehr viel stärker behaupten muss sich Philipp Moschitz als sich allmählich als Pantomime-Star entwickelnder Jüngling Baptiste Debureau. Zumal es hier auch Schwächen in Kriegenburgs Rollenzeichnung gibt. Aber es gelingt ihm, unter anderem die Einfallslosigkeit in der Choreografie von Katja Wachter zu überwinden – und als er im Dauerlauf ins Nichts endet, hat er alle Sympathien des Publikums auf seiner Seite. Großartig auch die Leistung von Eli Wasserscheid. Sie tritt als Gegenspielerin Garancas auf, absolviert insgesamt vier Rollen ausgesprochen gelungen, entwickelt sich als Nathalie im unverhältnismäßig prüden Glitzerkostüm bis zum Marienkäfer in der Schlussszene glaubwürdig und gewinnt noch einmal ordentlich im Abschied. Ulli Zentner überzeugt in fünf Rollen ebenso wie Marc-Philipp Kochendörfer, Hubert Schedlbauer und Butz Buse in jeweils drei Rollen. Eine großartige Truppe, wie man sie in dieser Geschlossenheit und schauspielerischen Leistung bei Gastspielen eher selten findet.

Foto © Jürgen Weller

Alessio Zachariades hat eine wundervolle Musik komponiert – ein Zwischending zwischen französischer Chansonstimmung, Jazz und Klezmer. Zachariades am Akkordeon und Daniel Zacher mit der Klarinette haben also alle Möglichkeiten, das verrückte, zärtliche, verkommene Spiel auf der Bühne zu unterstützen. Warum sie die nur marginal nutzen, bleibt vollkommen unverständlich. Eingangs- und Pausenmusik, Kapitelüberschriften – das war’s. Da hätte man sich deutlich mehr gewünscht.

Das Durcheinander und die Dichte von Schauspieltruppe, kriminellem Milieu und Lebensphilosophie halten etliche Besucherinnen und Besucher nicht durch. Nach der Pause haben sich die Reihen des ohnehin nur mäßig besuchten Saals überdurchschnittlich gelichtet. Aber es lohnt sich eben immer wieder doch, die zweite Hälfte abzuwarten. So auch hier. Die Ernsthaftigkeit, ja, Dramatik des sich zum Ende weiter steigernden Stücks begeistern die Verbliebenen, und so gibt es bis zu vereinzelten Bravo-Rufen viel Applaus für die Schauspieltruppe aus Schwäbisch Hall. Auch und obwohl das Stück ordentlich abgespielt ist, ehe es nach Leverkusen gefunden hat.

Michael S. Zerban