Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bettina Stöß

Aktuelle Aufführungen

Totentanz am Rande des Vulkans

DER ZAUBERBERG
(Xin Peng Wang)

Besuch am
12. Mai 2016
(Einmaliges Gastspiel)

 

 

Forum Leverkusen

Die Reaktionen auf die Uraufführung von Xin Peng Wangs abendfüllender Choreografie Der Zauberberg nach Thomas Manns gleichnamiger Romanvorlage im Dortmunder Theater waren überschwänglich. Das liegt zwei Jahre zurück. Eine Aufführung im Leverkusener Forum, der der Wiederaufnahme im Dortmunder Stammhaus folgt, zeigt jetzt, dass der Glanz der prachtvollen Arbeit nicht verblasst ist. Selten fügen sich Choreografie, Bühnenbild, Tänzerleistungen und Musik, Unterhaltungswert und Hintergründigkeit zu einem derart geschlossenen Gesamtkunstwerk. Entstanden ist die Arbeit ihrerzeit im Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Ein Krieg, der am Ende des Romans auch das Schicksal des Davoser Tuberkulose-Sanatoriums „Berghof“ besiegelt. Vor zwei Jahren ließ sich noch kritisch anmerken, dass die kulinarisch schöne, ästhetische Aufbereitung des Stoffs den Entstehungsanlass bedenklich entschärfen könnte. Heute lässt sich die Choreografie unbefangen als eine gelungene Transformation eines Romanstoffs genießen, der mit seinen knapp 800 Buchseiten eigentlich nicht gerade nach einer tänzerischen Umsetzung ruft.

Dass das Ergebnis dennoch rundum überzeugen kann, ist dem Verdienst von Xin Peng Wang und seinem Dramaturgen Christian Baier zu verdanken, die den literarischen Koloss geschickt auf ein zweistündiges Handlungsballett zuschnitten. Dass sich die epische Breite des Romans mit den kleiner dimensionierten Formen des Tanztheaters kaum in Einklang bringen lässt, war den Künstlern natürlich klar. Somit geht es nicht um eine Übertragung der Detailfülle, sondern um die Wiedergabe der morbiden Stimmung, in der nicht nur die todkranken Patienten ihr Leben aushauchen, sondern eine ganze Epoche im Angesicht eines sinnlosen und barbarischen Weltkriegs zugrunde geht.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Zelebriert wird ein Totentanz am Rande des Vulkans. Feinfühlig, fantasievoll, dezent und dennoch überwältigend bebildert, musikalisch kongenial unterstützt, ausgeführt auf einem außergewöhnlich hohen tänzerischen Niveau.

Foto © Bettina Stöß

Unter die Haut gehen bereits die noch leicht deskriptiven ersten Bilder, wenn Bauern dem eintreffenden Besucher und künftigen Patienten Hans Castorp auf einem Schlitten mit einer Leiche entgegenrasen. Wie von Leichentüchern umhüllt wirken auch die Patienten in einer Therapie-Stunde. Riesige Röntgenbilder schweben drohend über den Patienten. Schon jetzt entfaltet die von den Dortmunder Philharmonikern ausgeführte Musik des 2000 verstorbenen estnischen Komponisten Lepo Sumera ihre Suggestivkraft. Minimalistisch angehauchte, aber wesentlich differenzierter als von Gurus wie Steve Reich oder Phil Glass geformte Klänge ziehen wie narkotisierende Klangschleier durch den Raum, ergänzt durch raffinierte Anspielungen auf Musikstücke wie Bizets Torero-Lied oder Schuberts Lindenbaum, die auch im Roman erklingen.

Nahtlos passt sich die Musik den Fieberkurven der Stimmungen an, die die Patienten zwischen Euphorie und Verzweiflung, zwischen Liebesdrang und brutalen Sterbe-Prozessen durchleben. Am Ende überzieht ein weißes Leinentuch die Szene, während auf einem Eisblock Videoeinspielungen von Schützengräben die bevorstehende Katastrophe ankündigen.

Nicht alle, aber viele markante Figuren des Romans tauchen auf und alle erhalten ein klares, detailgenau ausgearbeitetes Profil. Natürlich kommen dem von Dmitry Semionov kraftvoll verkörperten Hans Castorp und der von Haruka Sassa kongenial gestalteten Madame Clawdia mit ihren beiden großen Pas de Deux‘ eine besondere Bedeutung zu. Zuerst kommen sie sich in angedeuteter Nacktheit auf einem Konzertflügel näher, während Buchstaben wie Schneeflocken auf der Rückwand herabfallen und sich zu Schlüsselsätzen des Romans zusammensetzen, während sich der Prozess im zweiten Pas de deux rückläufig abwickelt. Dafür ein besonderes Kompliment an Bühnenbildner Frank Fellmann und Videodesigner Knut Geng. Grotesk der Maskenball, intensiv die Sterbeszenen. Ein großer Ballettabend.

Das Publikum, wegen einer unglücklicherweise zeitgleich angesetzten, ähnlich attraktiven Tanzveranstaltung im benachbarten Erholungshaus nicht ganz so zahlreich erschienen wie gewohnt, reagierte mit langanhaltendem, begeistertem Beifall.

Pedro Obiera