Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Die Insel des Nichts

DIALOGUES DES CARMÉLITES
(Francis Poulenc)

Besuch am
28. Janaur 2016
(Premiere am 28. März 2010)

 

 

Bayerische Staatsoper München

In München klagt man gerne. Mehrere Inszenierungen wurden in den letzten Jahren aufgrund von Erbenbeschwerden, Urteilen und Einsprüchen geändert oder verboten. Sweeney Todd am Gärtnerplatztheater musste im Finale empfindlich nach der Premiere umgearbeitet werden, die Brechterben verbaten sich grundsätzlich Frank Castorfs fern am Original orientierte Baal-Revue, nun wollten die Nachkommen von Poulenc die Wiederaufnahme der Inszenierung des Dialogs der Karmeliterinnen verbieten, da das Ende umgedeutet und nicht werkgetreu positiviert wird. Man verglich sich darauf, die ursprüngliche Inszenierung von Dmitri Tcherniakov aus dem Jahr 2010 zu zeigen, eine DVD-Produktion dieser Arbeit darf aber nicht vertrieben werden.

Stein des Anstoßes bildete dabei allein der veränderte Schluss der Nonnentragödie. Ein Aufschrei ging durch die Presse, der sich an künstlerischer Freiheit orientierte, das Recht auf Nachlass und Werktreue durch Nachkommen diskutierte und den Zusammenhang von Justiz und Kunst kritisierte. Tcherniakov hat dabei nicht nur an der Staatsoper sein Können als Deuter schwerer Opernstoffe bewiesen. Seine geschickte Chowanschtschina-Produktion, die die verzwickte Handlung anhand eines großen Splitscreenaufbaus transparent machte, sein Gangsterdrama Simon Boccanegra mit Gemäldeanleihen, zuletzt seine dichte und psychologisch sezierende Lulu wurden gut aufgenommen. Der Moskauer inszeniert Texte, prägt einen raffinierten Minimalismus und nutzt seine szenischen Fähigkeiten auch im schwierigen Carmélites-Libretto.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Üblicherweise baut er die Bühne selbst, die zu Beginn bis auf Nebelschlieren leer bleibt. Die Metapher der verlorenen Blanche, überfordert von der Welt und den Menschen, wird durch einen durchsichtigen Karmelbau gelöst, der frei fahrbar aus dem Nichts auftaucht und samt der Gemeinschaft der Frauen einen plastischen Schutzraum bildet. Alles, was sich nicht innerhalb der Wände und im Konvent abspielt, wirkt bedrohlich, verloren, entfremdet und spiegelt Blanche Angst vor dem Leben. Trotz gewisser Sichteinschränkungen funktioniert das stilgebende Bühnenkonzept furios. Darin führt Tcherniakov präzises Figurenspiel wie den Tod der zweifelnden Priorin aus, er umgeht jedes Schwesternklischee, Elena Zaytsera kleidet die Nonnen in hausfraulich simplen Biederlook. Die Handlung wird entzeitlicht, konzentriert sich sehr auf die bestechend pessimistischen Texte nach Bernanos und lässt Poulencs orchestrale Lieder wirken.

Foto © Wilfried Hösl

Zum Finale dann der Ausbruch: Wo eigentlich alle Karmeliterinnen unter dem Beil fallen, das Martyrium sein tragisches Ende nimmt, da ergreift die passive, introvertierte Blanche erstmals und emanzipatorisch die Initiative. Sie rettet ihre Genossinnen aus dem unter Gas stehenden Verschlag, eine nach der anderen zum Schlusschoral, schafft jedoch nicht ihr eigenes Entkommen und stirbt pars pro toto als einzige für die Gruppe und verhindert durch ein symbolisches Opfer das Massensterben. Die versöhnliche, rührende Botschaft, die Tcherniakov dynamisch und eindrücklich auf die Bühne bringt, ist eine wichtige. Er gibt dem Opfertod, dem freiwilligen Sterben für Gott eine Absage und stellt diesem das Konzept der Rettung aus Verstand und Entwicklung entgegen. Das steht quer zur angedachten Handlung, passt aber ins Libretto, nur der Para-Text wird hier umgedreht. Die Wirkung und der vieldeutige, religionskritische Gehalt des Stoffes bleibt erhalten und erfährt eine positive Wendung, da das Chaos der Tode schlichtweg negiert wird und die Insel des Nichts, der Karmel der Weltfremde eben nicht zum Massengrab verkommt. Wie aktuell ist diese Botschaft.

Wie genau der Regisseur gearbeitet hat, zeigen seine selbstverfassten Rollenbiografien, die weit über das Libretto hinausgehen, eine Arbeitsweise, die nicht nur George Tabori zur Perfektion getrieben hat. Blanches Bruder wird so zum übergriffigen, in die Schwester vernarrten Krankheitsfall, Blanches Psychose wird spürbar und der Text erscheint in einer durchdachten, legitimen Lesart, die die Bühne verträgt und Deutungen erlaubt. Klein plumper Modernismus, keine schrille Familientragödie nach dem Stil von Martin Kusej, sondern eine gewagte, doch sinnige Inszenierung lädt hier zur Diskussion ein, nicht zum juristischen Hammer.

Getragen wird diese Umsetzung am Abend vom Pult. Der Romantiker Bertrand de Billy findet die richtige Ausgewogenheit zwischen den wabernden Melodiebögen und den sinfonischen Fanfaren Poulencs, etwa beim Erscheinen des Klosters. Er schont seine Sänger, die oftmals gegen das volle Orchester anzusingen haben, nicht, muss es bei dieser starken Besetzung auch nicht. Christiane Karg als Blanche gelingen die anspruchsvollen Registerwechsel, sie strahlt und taucht tief in die angstgestörte Schwester ein, ihre Verkörperung füllt auch den leeren Bühnenraum ebenso wie ihre warme, klare Stimmkraft. Die langen Erzählungen der neuen Priorin gestaltet Anne Schwanewilms mit sichtbarem Genuss. Sie löst Soile Isokoski in der Partie ab und beweist ebenso wie die Vorgängerin die Notwendigkeit eines gewachsenen dramatischen Soprans für die Rolle. Mehr Sieglinde als Brünnhilde, fehlt teils der Fokus in der Höhe. Die hat und nutzt Stanislas de Barbeyrac, der mit hellen, nicht zu gehaltvollen Tönen als Chevalier punktet. Einzig aus der Premierenserie übrig ist Susanne Resmarck als Mère Marie, deren voller Mezzo sich über den Abend hörbar steigert und Lust auf eine von ihr verkörperte Amneris macht. Trotz forderndem Tempo donnert Laurent Naouri kraftvoll als Marquis. Liebreizend und geschickt in der Koloratur singt Anna Christy die Constance, Sylvie Brunet-Grupposo zeigt als sterbende Priorin die Grandezza einer guten Altistin, der Stimme, die in der Opernliteratur bis auf zu wenige Ausnahmen schmählich vernachlässigt wird. Ihre stimmliche und szenische Präsenz besticht. Die Klosterschwestern unter Stellario Fagone werden von Poulenc nur sehr geizig eingesetzt, verströmen sie doch in den ausschließlich als Gebeten komponierten Chorpassagen eine ätherische Wirkung.

Die elegischen Momente des großen Melodrams wirken auch in den statischen Momenten des komplexen Werkes. Tcherniakov überlässt der Musik und dem Text die Bühne, schreitet erst zum Ende ein, versöhnt und liefert eine handwerklich tadellose, sinnige Arbeit. Leider erleben dieses Ende trotz richterlicher Erlaubnis nicht alle Münchner. Die Reihen lichten sich deutlich nach der Pause, unschlüssiger Szenenapplaus bei den Zwischenspielen und Bildschnitten und braver, nicht euphorischer Schlussapplaus zeugen von gewisser Überforderung durch Poulencs opus magnum, das gerade in dieser Produktion sowohl hörenswert als auch sehenswert ist.

Andreas M. Bräu