Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Wilfried Hösl

Aktuelle Aufführungen

Requiem für eine junge Frau

LA JUIVE
(Fromental Halévy)

Besuch am
4. Juli 2016
(Premiere am 26. Juni 2016)

 

Bayerische Staatsoper München,
Opernfestspiele

Grand Opéra zu den Festspielen. Das hat sich in München mittlerweile eingebürgert. Nach Guillaume Tell in einer zeitlosen Interpretation wird nun Halévys lange vergessene Konzil-Oper reaktiviert und mit üblich großem Aufwand dem Festspielpublikum präsentiert. Die Besetzung liest sich luxuriös, das Team hat sich am Haus verdient gemacht, selbst das Portal glänzt mit rotem Teppich und wehenden weißen Vorhängen.

Calixto Bieito kehrt nach Fidelio und Boris Godunow mit seinem Stammteam und mittlerweile breitem Opernportfolio ans Haus zurück. Er bleibt seinem Stil dabei zu treu und erneuert zugleich seinen Ruf als ästhetischer Moralist, inszeniert dabei aber seine auf hohem Niveau schwächste Arbeit an der Staatsoper.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Es beginnt mit Stille und Leere. Eine karge Mauer rückt der Rampe entgegen, davor steht allein im grünen Kleid eine Frau. Verlassen, unsicher, traurig. Ein typischer Bieito-Moment, der seine Lesart des Werkes verrät: Keine Religionsparabel, keinen Anti-Nathan möchte er erzählen. Er verweigert alle religiösen, einseitigen Symbole, sondern erzählt intim im großen Tableau vom Scheitern eines Mädchens, vom Requiem einer jungen Frau. Die karge, drehbare Wand von Stamm- und Erfolgspartnerin Rebecca Ringst verliert schnell an Attraktivität. Wenig passiert, froh ist der Zuschauer, senken sich irgendwann drei Stelen oder schimmern die klug reduzierten Videobilder von Sarah Derendinger über das eingenebelte Grau. Léopold singt seine Auftrittsarie auf eine Leiter verbannt, viel wird an der Wand gelehnt, gekauert, szenisch passiert zu wenig, nur die Damen scheinen das offensichtliche Barriere-Symbol zu durchschauen. Schöner gelingen die Chorszenen. Bieito beginnt mit einer Massentaufe, viel Kinderstatisterie wird gebadet, der entfesselte Mob drangsaliert die Jüdin Rachel mit Ästen. Die Gewalt nimmt der Katalane diesmal zurück, auch auf den Ostblockschick verzichtet er durch die kühlen, unauffällig dunklen Kostüme von Ingo Krügler, aus denen einzig die Juive in sanftem Grün hervorsticht. Die großen Duette gelingen dem Regisseur durch die durchweg ernsthafte Sängerführung gekonnt. Eudoxie verkrallt sich in ihre Rivalin, Brogni wäscht Éléazar die Füße. Der Hass der Figuren aufeinander ist spürbar und gipfelt in einem famosen Schlussbild: Ein moderner Scheiterhaufen in Form eines Gitterkäfigs brennt – bühnentechnisch geschickt – lichterloh zu des Juden grausamer Schlusspointe. Die problematischen Libretto-Teile übergeht Bieito dabei ebenso wie sich in holzhammerartige Parallelen zu verrennen. Ihm gelingt ein verkehrter Lessing, eine Rachegeschichte, die sehr privat erst in zweiter Linie vor dem Hintergrund der Konstanzer Konfessionszwistigkeiten abläuft. Vater und Tochter werden spürbar ausgegrenzt, immer ducken sie sich, halten sich von der uniformen, katholischen Masse fern. Doch die überkonstruierte Schicksalshandlung holt sie ein, gibt ihrem Hass keine Chance und führt zum bedrückenden Strudel des Untergangs. Bieito entsakralisiert das, stringent erzählen kann auch er dieses große Requiem nicht.

Foto © Wilfried Hösl

Die Bühnenskulptur des Godunow und das Fidelio-Labyrinth haben ihm mehr Spielfläche geboten. Diese Mauerschau wirkt einfallsloser. Vielleicht täte ein radikalerer Handschriften- und Formenwechsel gut.

Musikalisch bietet die Produktion ein Festspiel im sprichwörtlichen Sinne. Entdeckung, Debüt und Größe lassen La Juive auf sehr hohem Niveau gelingen. Wann hat man das letzte Mal einen saalfüllenden, wohl modulierten, prächtigen Bass wie den von Ain Anger gehört? Sein Brogni fesselt ab der ersten Note. Die tiefen Lagen erschüttern, die Pianoklänge verzaubern. Ein Sinnbild für das starke Ensemble. Roberto Alagna debütiert als Éléazar. Heldisch klingt er, kraftvoll und dunkel. Jeglichen Belcanto hat er für Halévys ungewöhnliche Tenorpartie verbannt und liefert ein lupenreines, genussvolles Französisch. Die vielen leisen Momente, Gebete und Monologe spielen ihm in die Karten. Szenisch agiert er hinkend, gebrochen, boshaft und gealtert. Eine große Darstellung mit noch größerer Stimmgewalt. Die liefert auch Aleksandra Kurzak in der Titelrolle. Die Polin rückte kurzfristig als Rachel nach. Ein Glücksgriff. Satt in der Mittellage, sicher in der Höhe, auskostend in der Verzierung hört man eine Entdeckung. Ebenso wie die ebenfalls nachgerückte Vera-Lotte Böcker, die szenisch wie stimmlich einen galanten Gegenpart liefert. Ihre Eudoxie versteigt sich in den Liebeswahn, die Stimme sitzt risikobereit und aufopfernd in der Koloratur. John Osborn dagegen enttäuscht im ersten Akt mit dem schwierigen Léopold-Auftritt. Er steigert sich, bleibt aber wie die Rolle des lügenden Verführers blass. Erst in den Trios und Duetten wird er vom Verve seiner Gegenparts mitgerissen. Die restliche Kraft erzeugt der hervorragende Chor unter Sören Eckhoff. Eigens wurde für das Te Deum eine Einspielung samt Orgel in der Münchner Sankt Michaelkirche produziert. Diese geht fließend vom Band in die szenischen großen Chorpartien über. Ob mit sakraler Demut, wütendem Fanatismus oder ruhmreichem Halleluja: Dieser Opernchor braucht keinen Vergleich zu scheuen.

Freilich auch nicht Bertrand de Billy am Pult. Mit wissenschaftlichem Interesse entstaubte er mit Bieito zusammen das komplexe Werk. Ouvertüre und Duette, Redundanzen und Puffer fliegen restlos raus. Die entschlankte Partitur feiert er samt den hörbaren Vorausgriffen zu Tannhäuser und anderen Epigonen. Halévy hat seine Handschrift durch viele Komponisten zitathaft weitergetragen. De Billy macht das hörbar, wechselt zwischen französischem Pathos, deutscher Dramatik und italienischer Galanterie beeindruckend. Das ist großes Dirigat für große Oper.

Das wird goutiert. Nicht lange, doch euphorisch jubelt das Festspielpublikum über einen langen, szenisch teils schleppenden, doch musikalisch grandiosen Abend.

Andreas M. Bräu