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Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Olivier Houeix

Aktuelle Aufführungen

Savoir danser

SILHOUETTE/UNE DERNIÈRE CHANSON/
ESTRO
(Thierry Malandain)

Besuch am
16. Dezember 2016
(Einmaliges Gastspiel)

 

Tanzwochen Neuss, Stadthalle

Wer im Rheinland modernes Ballett auf Weltniveau erleben möchte, wird in den Metropolen wie Düsseldorf oder Köln vergeblich suchen. Der muss sich schon ins Umfeld begeben. Neben dem Forum Leverkusen sind es vor allem die Internationalen Tanzwochen in Neuss, die in der Düsseldorfer Nachbarstadt regelmäßig die Stadthalle füllen. Dabei verfügen beide Spielstätten nicht einmal über ein eigenes Corps de Ballet. Stattdessen laden sie Spitzenchoreografen aus der ganzen Welt mit ihren Produktionen ein und ergänzen sich dabei auf vorzügliche Weise.

An diesem Wochenende ist das Malandain Ballet aus dem französischen Biarritz zu Gast in der Neusser Stadthalle, die wieder einmal bis auf den nahezu letzten Platz besetzt ist. Thierry Malandain und sein 22-köpfiges Corps haben mit drei Stücken ein gut anderthalbstündiges Programm mitgebracht, wie es kurzweiliger kaum sein kann. Die Tänzerinnen und Tänzer, allesamt klassisch ausgebildet, haben die zeitgenössische Bewegungssprache von Malandain vollkommen verinnerlicht. So entsteht absolute Präzision, die in der Darstellung vor allem von Leidenschaft, Leichtigkeit und Humor geprägt ist. Dabei ist der Choreograf ein Freund von Zitaten, aus denen er unverwechselbar Neues schafft.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Beispielhaft dafür steht der Auftakt des Abends. Ein zwölfminütiges Solo von Frederik Deberdt mit dem Titel Silhouette. Etienne de Silhouette war der Finanzminister unter Ludwig XV und gab der Scherenschnitt-Technik ihren Namen. Zum dritten Satz aus Ludwig van Beethovens Klaviersonate E-Dur, opus 109, zeigt Deberdt eine Hommage an Vaslav Nijinski. Selbst der weniger Ballettkundige vermag einzelne Bilder aus Le Spectre de la rose, Petruschka, Narzisse und vor allem L’Après-midi d’un faune erkennen. Auf einer Bühne, die mit Ballettstangen auf ein vergleichsweise kleines Viereck minimiert ist, zeigt Deberdt seine Figuren. Die einen sind begeistert von dem muskelbepackten, gestählten Körper des Tänzers, der hier deutlich unterfordert scheint, die anderen eher froh, dass zwölf Minuten erträglich kurz sind, auch wenn sie hier eher lang wirken.

Foto © Olivier Houeix

Ein letztes Lied – Une dernière chanson – will in einer halben Stunde alles vergessen machen, was das Leben anstrengend und unerfreulich aussehen lässt. Le poème harmonique, das Ensemble von Vincent Dumestre, hat die Musik französischer Meister des 17. Jahrhunderts eingespielt, die nun, wie die übrige Musik des Abends, „vom Band“ läuft. Véronique Murat hat zeitlose, geschmeidige Kostüme entworfen, die sich hervorragend in das Bühnenbild von Annie Onchalo und Nelly Geyres einpassen. Köstliche Kleinigkeit unter vielen ist der Tanz mit den Sakkos. Was man mit so ein paar Jacken anstellen kann, ist erstaunlich. Das ist alles intelligent und witzig gelöst. Eingerahmt von zwei Corps-Szenen, zeigt Malandain zahlreiche Pas de deux. Würde ein farbenfroher Schmetterling über die Bühne flattern, es könnte nicht bunter und abwechslungsreicher sein. „In etwa so wie das letzte Glas, der letzte Sonnenstrahl, das letzte Lied genossen wird“, beschreibt Thierry seine Choreografie. Und er hat Recht. Nachdem die letzte Tänzerin unter einer Patchwork-Decke verschwunden ist, steht am Ende ein nacktes Paar mit dem Rücken zum Publikum. Ästhetik pur.

Das kann man kaum noch steigern. Man nicht, Malandain macht vor, wie es geht. Für die 35-minütige Choreografie Estro hat er Musik von Antonio Vivaldi ausgewählt.  Ausschnitte aus Stabat Mater und Estro Armonico sind hier nicht mehr Untermalung, sondern Grundlage ausdrucksstarken Tanzes, der mit einer schier unglaublichen Präzision funktioniert. Dazu passen die schwarzen Kostüme von Karine Prins. Gemeinsam mit Lichtdesigner Jean-Claude Asquié hat der Choreograf ein fantastisches Bühnenbild entworfen. Durchbohrte, silberfarbene Trommeln, die mit LED-Licht gefüllt sind, überstrahlen zunächst die Szene, ehe sie in den verschiedensten Situationen mit unterschiedlicher Lichtintensität eingesetzt werden. Dazu schafft Malandain imposante Tableaux, die ebenso schnell wieder auseinanderbrechen wie sie aus dem schieren Nichts entstanden sind. Dass Vivaldi, Händel und Monteverdi die erste Musik für den Jive geschrieben hat, ist etlichen Opernregisseuren nicht neu, die das überwiegend für komische Situationen genutzt haben. Malandain setzt abgewandelte Figuren des Gesellschaftstanzes konsequent ein, kombiniert sie mit barocken Tanzsequenzen, die er ebenfalls adäquat in die Neuzeit übersetzt, und schafft so einen Bezug zur Gegenwart, der die Musik Vivaldis wie eben erfunden erklingen lässt.

Das Publikum johlt. Heftiger Applaus brandet immer und immer wieder auf. Tänzerische Perfektion in einem Umfeld überbordender Ideen, die bis ins kleinste Detail durchdacht sind: So kennt das Publikum die Internationalen Tanzwochen in Neuss.

Michael S. Zerban