Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ludwig Olah

Aktuelle Aufführungen

Erschreckende Hoffnungslosigkeit

AUS EINEM TOTENHAUS
(Leoš Janáček)

Besuch am
12. März 2016
(Premiere)

 

 

Staatstheater Nürnberg

Das ist keine leichte Kost, die Oper Aus einem Totenhaus von Leos Janácek nach den autobiografischen Aufzeichnungen von Fjodor Dostojewski über seine Erlebnisse als junger Häftling im zaristischen Straflager. Darin schildert der Dichter die Schrecken und unmenschlichen Bedingungen, welche die Gefangenen durch den Verlust der Freiheit und ihrer Würde erdulden mussten, durch die ständig herrschende Willkür und Bedrohung und die lebensfeindlichen Umstände. Dennoch wagt er aus christlicher Perspektive heraus einen vorsichtigen Optimismus. Janáček hält sich in seinem letzten, 1928 entstandenen Werk, dessen Uraufführung er nicht mehr erleben konnte, ziemlich genau an die Vorlage. So wird am Schluss, als der verletzte Adler, das Symboltier der Freiheit, wieder wegfliegen darf, auch der Hauptakteur, der adlige politische Häftling Alexandr Petrovic Gorjancikov wieder aus dem Lager entlassen, die übrigen Sträflinge aber müssen weiterhin in ihrem trostlosen Umfeld bleiben. Immerhin eine schwache Hoffnung.

Im Staatstheater Nürnberg aber verschärft Regisseur Calixto Bieito dieses Ende hin zum Negativen: Hier wird Petrovic nicht entlassen, sondern erschossen. Auch sonst verstärkt diese Inszenierung die Ausweglosigkeit noch durch einen brutalen Über-Realismus, anders als es der Komponist vorgesehen hat, der eine gewisse schwermütige Resignation zulässt, eine vage Sehnsucht nach Erlösung und die Beschwörung des Humanen, denn er überschreibt seine Oper mit einem Zitat von Dostojewski: „In jedem Geschöpf ist ein Funke Gottes“. Bei Bieito ist diese Sicht nahezu ganz verschwunden. Hier dominiert tiefster Pessimismus. Der Mensch ist hier dem Menschen ein Feind, die personifizierte Hölle. Auch wenn vor dem Beginn der Musik vor einer Wand die Gefangenen unter Bewachung auf einem von Pfützen übersäten Gelände Fußball kicken – da ist nichts, was die Freudlosigkeit durchbricht.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Auch als der junge Aljeja mit einem selbst gebastelten Flugzeug aus Karton auftaucht, wird ihm dieser Beweis einer eigenständigen Persönlichkeit sofort von seinen Mitgefangenen zerstört. Bei Janáček dagegen beschäftigen sich die Sträflinge mit einem Adler, dem „König der Wälder“, der sich aber wegen einer Verletzung nicht in die Lüfte aufschwingen kann. Bei Bieito wird dieses Symbol der Freiheit verifiziert durch ein altes Flugzeug, das auf die ansonsten leere Bühne von Philipp Berweger herabgelassen wird, wohl zur Reparatur durch die Gefangenen, in verschiedenartige Arbeitskleidung gesteckt von Ingo Krügler. Wenn diese Propellermaschine wieder entfernt wird, geht das trostlose Sträflingsleben mit Mord und Totschlag weiter; Leichensäcke bedecken den Boden. Die Handlung selbst verläuft nicht dramatisch, hat keine Höhepunkte, vielmehr reihen sich Episoden aneinander, in denen die Häftlinge von ihren „Taten“ erzählen. Eine gewisse Abwechslung bereitet das Osterfest, an dem sie nicht arbeiten müssen. Das aber führt gleich wieder zu Gewaltexzessen und Streit, zu schrecklichen Demütigungen. Das von ihnen aufgeführte Theaterstück artet aus in eine Sexorgie. Denn die Männergesellschaft geilt sich auf an Sexfantasien, gefördert durch die Frauenkleider, die einige anziehen, um Nutten darzustellen; ein Tanz wie bei einem Hexensabbat von Teufeln mit roten Hörnern und rotem Penis heizt die enthemmte Stimmung immer weiter auf, und so wird schließlich Aljeja brutal vergewaltigt und verletzt liegen gelassen. Nur Petrovic kümmert sich um ihn. Die anderen kommen nicht zur Besinnung, auch als einige von ihnen ermordet werden. Das wilde Bacchanal mündet in eine Katastrophe. Die Frage, ob es noch „gute Leute“ gibt, erübrigt sich: Luka ist sterbenskrank, Skuratov wird wahnsinnig, und die Gefangenen fahren ungerührt fort mit den Berichten über ihre Verbrechen. Als das Flugzeug wieder abhebt, besingen die Lagerinsassen die „geliebte Freiheit“, doch das klingt schon wie Hohn, denn sie kommen nicht frei, und nach der widerrechtlichen Erschießung von Petrovic kann der junge Aljeja nur noch sein kaputtes Flugzeugmodell retten. Alles versinkt in tieftrauriger Hoffnungslosigkeit.

Foto © Ludwig Olah

Doch musikalisch ergibt sich ein anderer Eindruck. Janáček lässt bei aller Drastik von Schlagwerk, Trommelwirbeln und heftiger Aggressivität in starken Klangballungen immer wieder auch kammermusikalische Lichter aufblitzen, fast freundliche, instrumentale Momente oder kurze ariose Stellen; das hat manchmal irisierende Effekte. Doch die verschwinden schnell; außerdem irritieren die raschen Tempowechsel, und die „Erzählungen“ der Gefangenen erinnern ab und zu an Sprechgesang. All das verwirrt ein wenig, weil es kaum eine durchgängig verlässliche Basis bietet. Marcus Bosch am Pult der Staatsphilharmonie Nürnberg vermittelt diese schroffe, auch oft spröde, expressive musikalische Sprache Janáčeks mit viel Einsatz, lässt die wenigen hoffnungsvollen Momente kurz aufleuchten, betont ansonsten das Drängende, Drohende. Nur manchmal gerät das Orchester dabei ein wenig aus dem Takt. Der Chor, einstudiert von Tarmo Vaask, ist, wie immer bei Bieito, permanent in kleinen, bedeutungsvollen Einzelszenen beschäftigt, was allerdings doch etwas ablenkt, singt aber luzid und tonstark.

Das große, rein männliche Sängerensemble besticht durch seine stimmliche Ausgewogenheit und ungebrochene Spielfreude. Aus allen Akteuren ragt Kay Stiefermann als sympathischer Petrovic mit seinem schön klingenden Bariton heraus; ausgezeichnet in seiner Rollengestaltung ist Cameron Becker als Aljeja auch dank seines hellen, jugendlichen Tenors. Als tragische Figur Luka überzeugt Tilman Unger wie auch als Filka mit seinem kraftvollen, facettenreichen Tenor, während sein Gegenspieler Skuratov, Edward Mout, eher bemitleidenswert wirkt, als er von Luisa singt. Einen kurzen, aber eindrucksvollen Auftritt hat Hans Kittelmann als gequälter Sapkin, und der alte Sträfling, Richard Kindley, scheint sich in die Welt des Irrsinns geflüchtet zu haben. Am längsten darf Siskov, ganz in Ketten gefesselt, von der Ermordung seiner Ehefrau und der Täuschung durch seinen Freund erzählen; Antonio Yang macht daraus eine stimmlich äußerst beeindruckende Szene dank seines starken, sicheren Baritons. Dem Kommandanten im Pelzmantel verleiht Marcell Bakonyi einen Nimbus von kalter Unangreifbarkeit. Weitere Sträflinge und Aufseher füllen stimmlich wie darstellerisch mit großem Engagement die vielen, auch kleinen Rollen in dieser Oper aus, die ein wenig an ein Oratorium erinnert, und tragen so zu einem aufwühlenden Ganzen bei.

Das Premierenpublikum im nahezu voll besetzten Opernhaus ist sichtbar mitgenommen vom heftigen Bühnengeschehen. Es feiert den Chor und die Sänger, bedenkt den Dirigenten mit ein paar unverständlichen Buhrufen und zeigt sich beim Schlussapplaus des Regieteams leidenschaftlich zerrissen zwischen jubelnden Bravos und lauter Abstrafung.

Renate Freyeisen