Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © N. Angelis

Aktuelle Aufführungen

Drei Brüder an der griechisch-türkischen Grenze

FAMILY CLASH
(Die Brüder Gerassimez)

Besuch am
7. August 2016
(Einmalige Aufführung)

 

Samos Young Artists Festival,
Pythagorion

Zum siebten Mal treffen sich junge Musiker auf Einladung der in München ansässigen Schwarz-Stiftung zum einwöchigen Samos Young Artists Festival auf der griechischen Insel Samos. Die unmittelbare Nähe zur in Sichtweite liegenden, an der engsten Stelle gerade einmal einen guten Kilometer entfernten Türkei kommt den Zielen der Stiftung, junge Menschen unterschiedlicher Kulturen zusammenzubringen, entgegen. Griechische und türkische Musiker gehören zur „Standardbesetzung“ des Festivals.

Diesmal ist jedoch einiges anders. So kann der israelische Komponist und Jazz-Pianist Guy Mintus nicht sicher sein, ob sein türkischer Kollege Derya Turkan für das Abschlusskonzert am Sonntag eine Ausreisegenehmigung aus der Türkei erhalten wird. Und besondere Herausforderungen stellte die Flüchtlingskrise an die Veranstalter, die die Insel besonders stark betroffen hat. Bis zu 1000 Flüchtlinge strandeten zeitweise täglich an den Küsten von Samos. Und nicht nur Lebende. Die Welle hat sich zwar stark abgeschwächt. Trotzdem hausen zurzeit 1300 Flüchtlinge in einem mit 280 Plätzen ausgestatteten Flüchtlingslager, entfernt von den Blicken der Touristen, die nichts von dem Elend mitbekommen. Dennoch sind die Touristenzahlen dramatisch eingebrochen. Ein Dilemma für die griechische Bevölkerung. Sie hilft den Flüchtlingen, so gut es geht. Aber die Frage, „Wer hilft denen, die helfen?“, steht unbeantwortet im Raum.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Das Problem wird bei dem Festival intensiv aufgegriffen. Unter anderem mit einer groß angelegten Ausstellung internationaler Künstler, die sich nicht nur künstlerisch mit dem Thema auseinandersetzen, sondern oft auch aktiv an Hilfsmaßnahmen beteiligen. Noch hat man die Flüchtlinge nicht zu den Konzerten eingeladen. Aber immerhin stellt Mintus einen Chor aus jungen Inselbewohnern und „unbegleiteten“ Flüchtlingen zusammen, der zum Abschlusskonzert auftreten wird.

Foto © N. Angelis

Der Auftakt fällt eher beschwingt, gleichwohl künstlerisch anspruchsvoll aus. Drei Brüder mit ukrainischem Hintergrund, die jedoch in der Ruhr-Metropole Essen aufgewachsen und danach getrennte Wege gegangen sind, treffen sich zu einem ihrer seltenen Gemeinschaftsauftritte. Die Besetzung Klavier, Violoncello und Schlagzeug gehört nicht zu den klassischen Standardformationen der Kammermusik, so dass auf etliche Arrangements und Eigenkompositionen zurückgegriffen werden muss. Was kein Nachteil für die Spontanität und Originalität des kurzweiligen Abends in der malerischen Ruine des antiken Theaters von Pythagorion bedeutet. In einem Landstrich, in dem einst die Mathematiker Pythagoras und Euklid, der Geschichtsschreiber Herodot und der Fabeldichter Aesop Geschichte schrieben.

Der Vater der Brüder Gerassimez ist Trompeter bei den Essener Philharmonikern. Alexej am Schlagzeug, Nicolai am Klavier und Wassily mit dem Violoncello, alle unter 30 Jahre jung, haben als Einzelmusiker etliche Erfolge verbuchen können. Alexej Gerassimez gilt als einer der besten Schlagzeuger und hat sich als Sieger des ARD-Wettbewerbs einen Namen machen können. Auch wenn sie nicht regelmäßig zusammen musizieren können, verbindet die drei doch eine unsichtbare kreative Verwandtschaft, die sie ebenso locker wie souverän nutzen. Das führt dazu, dass sie bisweilen auch einmal die Instrumente tauschen und Ravels Bolero als Zugabe zu dritt auf einem einzigen Violoncello in Kurzfassung präsentieren können.

Spielfreude auf hohem musikalischem Niveau steht im Mittelpunkt des Konzerts. Zu hören sind klanglich aparte Arrangements wie ein Beitrag aus Bachs Wohltemperiertem Klavier für Cello, Vibraphon und Klavier, jazzige Experimente wie Andreas Koppels Toccata für Marimba und Klavier, virtuose Zaubereien in einem ausgedehnten Solo-Stück für eine kleine schlichte Trommel als Eigenkomposition von Alexej Gerassimez oder eine mechanisch präzis ablaufende Studie von Steve Reich für Claves, also simple Holzstäbe, mit denen sich alle drei als exzellente Rhythmiker ausweisen.

Nachdenkliche Töne schlägt vor allem Wassily Gerassimez mit seinen Eigenkompositionen für Violoncello an. So eine sehr romantisch anmutende Fantasie Melancholia und die etwas klischeehafte Studie für Solo-Cello Der letzte Tanz im Orient. So fetzig und lebensfroh Fazil Says jazzige Paganini-Variationen von Nicolai Gerassimez auf dem Klavier erklingen. Die Biografie des türkischen Pianisten wirft unter der derzeitigen politischen Schräglage einen zusätzlichen Schatten auf die künstlerische Freiheit in der Türkei.

Pedro Obiera