Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Karl und Monika Forster

Aktuelle Aufführungen

Dem Schicksal unentrinnbar

DIE SOLDATEN
(Bernd Alois Zimmermann)

Besuch am
30. April 2016
(Premiere)

 

 

Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Unspielbar ist Bernd Alois Zimmermanns einzige Oper Die Soldaten längst nicht mehr. Nachdem der Komponist klare Taktstriche gesetzt hatte, gelang die szenische Uraufführung 1965 in Köln. Das war fünf Jahre nach der Fertigstellung der Oper. Wo immer das Werk seither aufgeführt wird, fasziniert es das Publikum. Vorausgesetzt dem Regisseur gelingt, was Zimmermann als pluralistische Form des Musiktheaters formulierte. Übersetzt meinte er damit tausend Kleinigkeiten, die im Idealfall so aufeinandertreffen, dass die Oper in allen Details ebenso vielfach wie minutiös ausgeleuchtet erlebbar wird.

In der aktuellen Inszenierung am Staatstheater Wiesbaden zur Eröffnung der Maifestspiele werden Zuschauer und Darsteller auf drastisch direkte Weise in das Geschehen hineingezogen. Eine naive Bürgerstochter lässt sich von einem Baron verführen, wird fallen gelassen und im Soldatenmilieu nach unten weitergereicht, bis sie als Soldatenhure in der Gosse landet.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Nicht die Geschichte um die Bürgerstocher Marie oder die Soldateska faszinierten Zimmermann am 1776 verfassten Drama Die Soldaten von Jakob Michael Reinhold Lenz. Jenseits der konkreten Handlung erkannte er darin den idealen Stoff zur Verdeutlichung einer allgemeingültigen Zwangssituation, in die Menschen mehr unschuldig als schuldig geraten und aus der es kein Entrinnen gibt. „Absurd bis zur Hässlichkeit auf der einen Seite, zerfetzt, ausgeglüht; auf der anderen von einer zauberhaft lyrischen Verhaltenheit und leuchtenden Schwebung, borkig und kristallin zugleich“, umschrieb er seine Begeisterung für die Sprache des Dichters und ließ damit erahnen, welches Ausdrucksspektrum er dafür erfinden würde. In den von Lenz 1774 verfassten Anmerkungen über´s Theater fand er zudem einen Widerhall seiner Auffassung vom pluralistischen Musiktheater. Lenz plädierte in seinen Anmerkungen für schnelle Wechsel kurzer und kürzester Szenen, um die aristotelische Vorstellung von Ort, Handlung und Zeit auszuhebeln. Zimmermann verstärkte diese Wirkung, indem er Szenen mit Hilfe der Collage noch zusammenzog und durch Parallelläufe eine Einheitlichkeit der Zeit erzielte. Aspekte der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft sind dadurch prinzipiell gleichzeitig verfügbar. 

Foto © Karl und Monika Forster

Entsprechend setzte Zimmermann die musikalischen Mittel ein. Sprechen, Singen, Schreien, Flüstern, Gregorianik, Orgelmusik speisen sich aus einer Zwölftonreihe, in der alle Intervalle des temperierten Systems vorkommen. Das Ausdrucksspektrum umfasst die breite Palette vom einzelnen Wort bis hin zu chaotischen instrumentalen Überlagerungen. Das Detail wird dabei unerheblich. Entscheidend ist die raumgreifende Wirkung.

Der gerade 32 Jahre junge Regisseur Vasily Barkhatov greift in Wiesbaden zu einem einfachen wie wirkungsvollen Mittel. Er hebt die Grenzen zwischen Publikum und Darstellern auf. Zuschauer nehmen in den Rängen und auf der Bühne ihren Platz ein. Das Parkett und die Logen sind den Akteuren vorbehalten. Zum Verwechseln ähneln die Sängerschauspieler und Statisten dem Premierenpublikum. Barkhatov konstruiert damit, was sich Zimmermann vorstellte: ein Bühnenrund, in dem Bühne und Zuschauerraum zur Spielfläche, die Zuschauer zu Akteuren und die Akteure zu Zuschauern werden.

Inmitten dieser Spielfläche durchleidet Marie in vier Akten ihren sozialen Abstieg. Parallel dazu hoch über dem Zuschauerraum auf eine überdimensionale Bombe projiziert, verfolgen die Zuschauer in filmischen Sequenzen den Verfall des Wiesbadener Staatstheaters. In rasanten Szenenwechseln verwandelt sich darunter die Bühnenfläche mitten im Zuschauerraum von der Kaserne zum Lazarett und zur Leichenhalle. Weitere Spielflächen bieten die Logen. So findet auf verschiedenen Ebenen Vergewaltigung, Vernichtung und Mord statt. Barkhatov schreckt vor schockierenden Darstellungen und brutalen Szenen nicht zurück. Kostüme und Uniformen von Olga Shaishmelashvili unterstreichen den Gegenwartsbezug. Das alles lässt nicht unberührt.

Die zahlreichen Solisten leisten Großartiges. Unter ihnen tritt vor allem Gloria Rehm hervor. In der Rolle der Marie verkörpert sie überzeugend das Opfer, das keine Chance hat, seinem Schicksal zu entrinnen. Mit schier unerschöpflicher Vielfalt in der Tongebung gelingt ihr eine scharfe Charakterzeichnung. Holger Falk als Maries Geliebter Stolzius fesselt alle Aufmerksamkeit, wenn er sich mit langem Atem in ein im Nichts verschwindenden Pianissimo zurückzieht, um schließlich in der Doppelrolle aus Opfer und Täter zu verschmelzen.

Mit sicherer Hand leitet Zsolt Hamar den gigantischen Orchesterapparat. Die Musik ist gemäß der Darstellung nicht weniger direkt, verstörend, schmerzvoll und packend. Wenn schließlich am Ende nach zwei Stunden Aufführungsdauer ohne Pause über die Tonbänder das allzu Menschliche der Ereignisse Raum greift und die Zuschauerakteure in agitatorische Klatschrhythmen verfallen, wird physisch spürbar, was Zimmermann beabsichtigte: die Einheit der Zeit, in der für jeden unentrinnbar die Vergangenheit die Zukunft bedroht und die Zukunft die Vergangenheit.

Eine großartige Aufführung, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

Christiane Franke