Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Nik Schölzel

Aktuelle Aufführungen

Türkei ohne Türken

DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL
(Wolfgang Amadeus Mozart)

Besuch am
27. November 2016
(Premiere)

 

 

Mainfranken-Theater Würzburg

Ist Mozarts deutsches Singspiel Die Entführung aus dem Serail in drei Akten eine „Türkenoper“? Oberflächlich gesehen entspricht das 1782 mit großem Erfolg in Wien uraufgeführte Werk den damals so beliebten „Türkenstücken“, und das Libretto von Gottlieb Stephanie d.J. nahm auch ein diesem „Modetrend“ folgendes Schauspiel des Berliner Schriftstellers Christoph Friedrich Bretzner zur Vorlage. Doch Mozart ging es wohl inhaltlich um Anderes: Die Heldin des Stücks, Konstanze, trägt denselben sprechenden Namen wie seine Braut Constanze Weber, die Botschaft der Handlung kündet von edlem Menschentum, die Beziehungen der Menschen untereinander sind geleitet vom erotischen Begehren – all das für Mozart von Interesse.

Obendrein konnte er in seiner Komposition Vielschichtiges verknüpfen, Anklänge an die so genannte Janitscharen-Musik verwenden, Mitreißendes, volkstümlich Erheiterndes, singspielhafte Elemente, empfindsame Motive auch effektvolle, virtuose Arien einsetzen und so etwas ganz Neues erschaffen, so dass, wie sein Bewunderer Carl Maria von Weber äußerte, eine „heitere, in vollster, üppiger Jugendkraft lodernde, jungfräulich zart empfindende Schöpfung“ entstand.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Dass Stoff und Zeit der Entführung aus dem Serail Regisseure dazu verführen kann, aktuelle Bezüge zur Auseinandersetzung des Westens mit dem Islamismus herzustellen, ist verständlich. In diese Versuchung gerät Sigrid Herzog bei ihrer Inszenierung am Würzburger Mainfranken-Theater nicht. Sie lässt alles in einem unbestimmten heutigen Irgendwo spielen; die Konflikte der Personen sind von der jetzigen Zeit unabhängig, sie liegen in den Persönlichkeiten, den Charakteren der Figuren begründet. Die Regisseurin ist vielmehr interessiert am Profil der Rollen, am Verhalten der einzelnen Figuren, und demgemäß muss der Bassa Selim auch ein schärferes Gewicht in seinen Überzeugungen bekommen. Deshalb weitet der Dialogtext von Markus Trabusch und Sigrid Herzog auch sein monologisches Geständnis human-liberaler Gesinnung aus, etwa durch Zitate von Grabbe.

Foto © Nik Schölzel

Auch Osmin ist hier kein tumber, gewalttätiger, etwas unbeholfener Primitivling, sondern eben kein allzu feiner Herr, der das neckisch lockende Blondchen als erreichbare „Beute“ ansieht. Dass Konstanze von Bassas Großmut und Männlichkeit nicht ganz unbeeindruckt ist, deutet sich schon während der Ouvertüre an, als sie vor dem Vorhang gut gelaunt mit ihm das Tanzbein schwingt, während unten ihr Verlobter Belmonte etwas fassungslos zuschaut. Man wundert sich auch später, dass Konstanze ihren „Entführer“ immer wieder nahe an sich heranlässt, ihn sogar freiwillig küsst, obwohl er ihr doch die Freiheit genommen hat. Dauernd beschwört sie dagegen die Treue zu ihrem Verlobten; nur diese Verpflichtung hält sie wohl davon ab, sich dem Bassa ganz hinzugeben, der ihr seine tiefe Liebe gesteht und sich wünscht, dass sie freiwillig seine Frau wird; sie aber will sich nicht zwingen lassen; er respektiert das vorerst. Nicht zuletzt deshalb schätzt sie ihn.

Natürlich spürt Belmonte die feinen erotischen Schwingungen, die sich zwischen Bassa und Konstanze entwickelt haben, ist zu Recht eifersüchtig, wogegen sich Konstanze gerade noch wehren kann. Allerdings gibt die Regie nach dem Ende der Oper einen Hinweis darauf, wem sich Konstanze letztlich zuwendet: Sie läuft auf den resigniert abtretenden Bassa zu. Die Großmut, die edle Gesinnung, der Sieg über den Hass triumphiert. Was Belmonte dann macht, der ja nicht auf Konstanze verzichtet, obwohl er erfährt, dass der Bassa ihm, dem Sohn seines schlimmsten Feindes, die Freiheit geschenkt hat, bleibt im Ungewissen.

Jedenfalls entpuppt sich der Harem des Bassa, als die Verhüllungen  im Schlusschor fallen, als ganz schräge Gesellschaft heutiger Menschen. Schlüssig gezeichnet ist das lockere, lebenslustige, etwas oberflächliche Dienerpaar Pedrillo und Blonde, das sich auch durch den Störfaktor Osmin wenig aus der Ruhe bringen lässt. Die optische Umsetzung der Handlung durch die Ausstattung von Davy van Gerven scheint hingegen etwas zwiespältig. Zwar sind die Kostüme schlicht heutig, das Dienerpaar wird durch helles Karo akzentuiert, die Männer tragen Anzüge, Konstanze leichte Sommerkleider, der blaue Arbeitsanzug von Osmin wirkt eher unbenutzt, wie eine Uniform, in die am Schluss auch Bassa schlüpft, aber die Bühne scheint mit Ausnahme des zweiten Akts irgendwie leer.

Es beginnt vor einem goldfarbenen Vorhang, vor dem ein Kleintransporter mit zwei Palmen auf der Ladefläche und eine Bank wohl Gärtnerisches andeuten sollen. Im zweiten Akt wird der Zuschauer in einen Innenhof eines südlichen Hauses mit einer kissenbestückten Sitzbank geführt; das Licht von Roger Vanoni schafft dazu abendliche Stimmung. Der letzte Akt findet statt in einem leeren schwarzen Raum; glänzende Schläuche hängen herab, an deren Bedeutung viele rätseln; einer meint, das sei halt einfach „Deko“, etwas Nebel kommt auf, Belmonte und Pedrillo markieren Paddeln im Boot, und die Flüchtenden mit Rollkoffern und Sonnenbrillen und langen Mänteln müssen bald ihre nutzlose Verkleidung ablegen; sie sind entdeckt und stellen sich der Realität, sind mithin frontal aufgereiht dem Publikum zugewandt. Nun aber singen sie das Hohelied der edlen Gesinnung, der Verachtung des Todes, der Abkehr von Hass und Rache, der Toleranz; alles wirkt wie eine Proklamation des Humanismus.

Bei solcher Handlungslosigkeit kann man sich voll auf die Musik konzentrieren. Das Philharmonische Orchester Würzburg hat unter der inspirierenden Leitung von Enrico Calesso eine Sternstunde: Schon die Ouvertüre mit ihrem fein duftigen Beginn, dem gleich kraftvoll mitreißendes „türkisches“ Kolorit folgt, lässt aufhorchen, und auch später wechseln sich federnder Rhythmus, leuchtende Empfindung und energische Fortissimi ab, alles vom Mozartschen Geist beseelt und sehr sängerdienlich.

Als Bassa Selim besticht Wolfram Rupperti als Mann von charakterlicher Reife und etwas unergründlicher, nicht unsympathischer Ausstrahlung. Sein Diener Osmin wird durch Tomasz Raff als freundlich naiver, zu heftigen Ausfällen – allerdings nur mit der Fliegenpatsche – neigender Mensch sehr überzeugend dargestellt, unterstützt von seinem nicht allzu profunden Bass. Maximilian Argmann ist mit seinem jugendlich unbeschwerten Auftreten und dem hellen Tenor ein lockerer, fröhlicher Pedrillo, der passende Partner für das etwas oberflächliche, zierliche, quirlige Blondchen, Anja Gutgesell, mit sehr hellem, manchmal leicht übersteuertem Sopran. Als Belmonte feiert der mexikanische Tenor Roberto Ortiz ein viel versprechendes Debüt in Würzburg, nicht nur in der Darstellung, sondern auch mit seiner reich bemittelten Stimme, mit der er nach anfänglich vorsichtigem Beginn Schmelz und viele Ausdrucksfarben entfalten kann. Star des Abends aber ist Silke Evers als Konstanze, nicht nur durch ihre Bühnenpräsenz, sondern auch durch ihren glanzvollen, höhensicheren Sopran. Reinster Balsam für die Ohren sind die Duette mit ihrem Belmonte im dritten Akt. Auch der Chor, geleitet von Anton Tremmel, erfreut wieder mit ausgeglichenem Klang und gelungenen Chorsoli.

Am Ende gibt es, nach etwas zögerlichem Zwischenbeifall, im voll besetzten Haus großen Jubel für die musikalische Seite, vor allem für das Orchester. Mit der Inszenierung, die niemand vor den Kopf stößt, sind die meisten recht zufrieden, nur ein Zuschauer bemerkt beim Hinausgehen: „Eine konzertante Aufführung vor geöffnetem Vorhang.“              

Renate Freyeisen