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Wunderbare Zigeunermusik


 
 

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Europas leidenschaftlichster Kulturbotschafter

Vor mehr als einem Jahrzehnt hat Riccardo M Sahiti die Roma und Sinti Philharmoniker gegründet. Das Projektorchester kämpft seitdem um Wahrnehmung und Förderung sowie eine institutionelle Basis für eine gesicherte Zukunft. Sahitis Mission ist eine doppelte. Er will einen Teil der Ursprünge europäischer Kultur neu bewusst machen und ein unüberhörbares Zeichen gegen Diskriminierung und Vernichtung von Minderheiten setzen.

Musik ist mein Himmel!“ Der Mann, der dieses Credo formuliert, ist, was man einen Vollblutmusiker zu nennen pflegt. Es gibt weitere berührende Sätze von Riccardo M Sahiti. Einer lautet: „Ich lebe 24 Stunden am Tag für das Orchester.“ Der Dirigent, 1961 in Kosovska Mitrovica im damaligen Jugoslawien als siebtes von acht Kindern einer Roma-Familie geboren, hätte auch von „meinem“ Orchester sprechen können. So sehr, so absolut ist Sahiti der Kern, der Spiritus Rector, die Seele der Roma und Sinti Philharmoniker. Es ist das derzeit wohl unkonventionellste Orchester in Europa, womöglich weltweit. Und sein musikalischer Leiter der Dirigent mit der wahrscheinlich ausgeprägtesten Leidenschaft seit Leonard Bernstein.

Sahiti gründet die anfänglich als Kammerorchester agierenden Roma und Sinti Philharmoniker 2002 in Frankfurt. Alle gut 60 Mitglieder sind Roma oder Sinti und professionell ausgebildete Musiker, die in Berufsorchestern in unterschiedlichen europäischen Ländern beschäftigt sind, so in Deutschland, Frankreich, Österreich, Polen, Rumänien, Russland, Tschechien oder Ungarn. Darunter sind renommierte Ensembles wie das Orchester der Wiener Staatsoper, das MDR-Sinfonieorchester, das Nationalorchester Rumäniens. Jahrelang träumt der 1992 vor dem Kosovo-Krieg nach Frankfurt am Main geflüchtete Sahiti davon, mit einem Orchester von sinfonischem Zuschnitt jenen Kompositionen eine öffentliche Bühne zu schaffen, die in der Musikkultur der Roma verankert und aus dem europäischen Kulturerbe nicht wegzudenken sind. Seine Vision kreist um die Idee, eine Brücke zu den großen traditionellen Zigeunerweisen jenseits aller Klischees zu bauen und zugleich ein markantes Zeichen gegen Vernichtung und Vertreibung, gegen Diskriminierung und Abschottung zu setzen.

Für Ausgrenzung gibt es keinen Grund

Ausgrenzung hat der einstmalige Moskauer Stipendiat bei Bewerbungen um eine Anstellung in einem Orchester persönlich wiederholt erlebt. Auf Abwehr und Abschirmung stoßen Roma auch heute in diversen europäischen Ländern. So liegen die Ursprünge des Projekts letztlich in der Lebensgeschichte Sahitis und der Jahrhunderte währenden Diskriminierung von Roma und Sinti, die in der Ermordung von Hunderttausenden der Minderheit in den so genannten Konzentrationslagern der Nationalsozialisten eskaliert. Beide Geschichten durchdringen einander und lassen so die Tragweite des Konzepts wie die Leidenschaftlichkeit seines Begründers verstehen. „Sinti und Roma haben der Menschheit viel gegeben“, betont er, „aber sie haben davon nur sehr wenig zurückbekommen.“ Wer glaubt, eine solche Erkenntnis sei in Groll und Bitterkeit verfangen, liegt fehl. Sahitis Lebensphilosophie ist seit Kindheit und Jugend in der Nähe von Pristina positiv, stets nach vorn gerichtet. Mit den Roma und Sinti Philharmonikern will er nichts weniger etablieren als Kulturbotschafter, die sich wie selbstverständlich auf dem Niveau der besten Orchester in der Welt bewegen, auf Augenhöhe.

„Es gibt viel zu tun.“ Dieser für den temperamentvollen Sahiti typische Satz ist eines jener charmanten Understatements, die in Gesprächen mit ihm immer wieder auftauchen. Das Orchester existiert zwar schon über ein Jahrzehnt. Doch lebt es als Projektorchester mit dem Handicap, nur dann auftreten und vor allem proben zu können, wenn das jeder einzelne Musiker mit seiner Hauptverpflichtung vereinbaren kann. Grundsätzlich, gibt Sahiti zu verstehen, brauche das Orchester aber mehr Konzerte, dafür auch mehr Unterstützung. Ihren ersten öffentlichen Auftritt in einem adäquaten Rahmen erleben die Roma und Sinti Philharmoniker 2011 beim Internationalen Beethovenfest Bonn vor allem dank der Initiative der damaligen Intendantin Ilona Schmiel. Das Konzert mit einem breitgefächerten Programm von Franz Liszt über Camille Saint-Saens und Giovanni Bottesini bis hin zu Zoltán Kodály adelt Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma: „Was wir in der Beethovenhalle erleben durften, ist so etwas wie ein Ritterschlag für die Musiker.“

Überfälliges Requiem

Aufmerksamkeit gewinnen Sahiti und seine Philharmoniker in der Folgezeit durch das Requiem für Auschwitz, das nach der Uraufführung 2012 in Amsterdam in mehreren europäischen Metropolen zu erleben ist. Sinto Roger Moreno-Rathgeb hat es komponiert und „allen in Auschwitz gestorbenen Menschen“ zugedacht. Auf der Agenda ist das ehrgeizige Vorhaben, das Requiem in Israel, etwa in der Israeli Opera in Tel Aviv, aufzuführen. Ein erster Anlauf scheitert aus finanziellen Gründen. Doch Sahiti verfolgt den Plan weiter. „Für das Orchester wäre die Aufführung in Israel die Chance, ein historisches Zeichen gegen Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten jedweder Herkunft zu setzen“, sagt er. Die nächste Gelegenheit, die Roma und Sinti Philharmoniker zu erleben, ist am 8. April bei der 19. Auflage des Festivals Heidelberger Frühling. Der 8. April ist der internationale Tag der Roma, eingedenk der ersten Welt-Roma-Konferenz in London. Das Konzert unter Leitung Sahitis mit Werken von Brahms, Schtschedrin, Kodály, Saint-Saëns und John Williams verzeichnet auch eine neue Komposition Moreno-Rathgebs für Orchester.

In einer Zeit, in der sich die Völker Europas ihrer gemeinsamen Kulturgeschichte bewusster werden, bisweilen schmerzlich genug, ist der ideelle Kern der Kulturphilosophie Sahitis von historischer Relevanz. Nichts weniger ist angesagt, als ein neues Bewusstsein und Interesse für das zu wecken, was sich mit dem polarisierenden Begriff der „Zigeunermusik“ verknüpft. Die Anfänge liegen im heutigen Ungarn. Weit vor der Neuzeit entwickelt sich dort eine archaische Volksmusik. Charakteristisch für sie sind Fünf- oder Siebentonreihen, abrupt wechselnde Takt- und Zeitmaße und weitere eigenwillige Stilelemente. Auf der Grundlage dieser eigenen Tonsprache entstehen schwermütig-leidenschaftliche Lieder und Tänze, so der Csárdás. Zigeuner adaptieren diesen Stil unter Verwendung einer eigenen Tonleiter und machen diese von der Barockzeit an im Westen bekannt. Komponisten greifen die „Zigeunerweisen“ auf, die Zigeunerkapellen in den Cafés von Wien und Budapest zu einem eigenen Genre stilisiert haben, und übernehmen Stilelemente dieser Volksmusik in ihre Werke.

Zigeunermusik ist ein positiv belegter Begriff

Die Musik der Zigeuner, sagt der ungarische Dirigent Ivan Fischer, habe nicht nur die ungarische Kultur bereichert. „Sie stellt eine ganz große Leistung für das heutige Europa dar, die aus unserem gemeinsamen Kulturkanon nicht wegzudenken ist.“ Schon eine flüchtige Werkanalyse macht den Kontext deutlich. Kompositionen alla zingarese sind bereits bei Telemann nachweisbar. Sie finden sich später bei Haydn, Mozart, Brahms, Beethoven, de Falla und Sarasate. Liszt arbeitet sich komponierend in seinen Ungarischen Rhapsodien auf der Basis von Materialien ab, die er auf seinen Reisen durch Ungarn und Rumänien aufzeichnet. Bela Bartok und Kodály erforschen systematisch die Volksmusik ihrer Heimat. Der Verbunkos-Stil der Zigeunerkapellen etwa fasziniert Kodály in den Tänzen aus Galánta und in jedem Konzert das Publikum. Zahlreiche Opernkomponisten von Bizet bis Verdi lassen sich alla hungarese inspirieren. „Mehr als 80 Opern“, unterstreicht Sahiti, „sind von der Zigeunermusik beeinflusst.“

„Die Roma sind das musikalischste Volk“, sagt einer von Sahitis Philharmonikern in einer vom RBB produzierten und im Januar auf Arte ausgestrahlten TV-Dokumentation. Titel: Ein Dirigent und sein Traum: Die Roma und Sinti Philharmoniker. Sie zeigt die Vorbereitungsphase des Orchesters vor einem Konzert im rheinischen Brauweiler, spürt den Biographien, Identitäten und Motiven einzelner Musiker nach, die in der überwölbenden Corporate Identity des Orchesters homogen und harmonisch zusammenfließen. Besonders eindrucksvoll ist das Bemühen Sahitis zu erleben, Förderer, Sponsoren und Geldgeber im politischen Raum dafür zu gewinnen, seinen Philharmonikern eine institutionelle Basis zu verschaffen, sei es beim Anklopfen an Türen im Auswärtigen Amt in Berlin, sei es bei den EU-Institutionen in Brüssel.

In dem Kreislauf „mehr Konzerte, mehr Förderung, mehr mediale Wahrnehmung, mehr Konzerte und so weiter“ hat das TV-Dokument für Sahiti a priori seinen Wert. Wer erlebt hat, wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit abgewiesen zu werden, weiß jede TV-Sekunde besonders zu schätzen, die von Respekt getragen und von Wohlwollen begleitet ist. Eben diese Empathie wünscht sich der Dirigent für seinen Weg durch die Institutionen, auf nationaler Ebene wie auf der der Europäischen Union. Eine neuerliche Vision? Einige EU-Mitgliedsstaaten scheinen in jüngster Zeit entschlossener, sich intensiver für eine nachhaltige Verbesserung der Lebensverhältnisse der Roma einzusetzen. Bessere Kulturbotschafter für die Mission Sahitis als die Roma und Sinti Philharmoniker dürfte es dafür kaum geben. Erzählen sie doch dem europäischen Establishment diesen Teil der Kulturgeschichte Europas geradezu klassisch, und, um es noch einmal zu sagen, auf Augenhöhe.

Ralf Siepmann 24.2.2015

 


Die Roma und Sinti Philharmoniker
ernteten bei ihrem Auftritt beim
Beethovenfest 2011 in Bonn viel
Anerkennung.


Riccardo M Sahiti, Dirigent der Roma
und Sinti Philharmoniker, hat sich und
seinem Orchester auf die Fahnen
geschrieben, für kulturelle Annäherung
zu sorgen.


Romani Rose, Vorsitzender des
Zentralrats deutscher Roma und Sinti,
sieht in der Arbeit Riccardo M Sahitis
die große Chance zur Normalität.


Roger Moreno-Rathgreb hat das
Requiem für Auschwitz komponiert, das
immer häufiger aufgeführt wird - aber
noch nicht oft genug.


Seit mehr als zehn Jahren kämpft
das Orchester der Roma und Sinti um
seine institutionelle Anerkennung, also
um seine finanzielle Absicherung. Und
ist damit längst in der Normalität
angekommen.