Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Joachim Müller-Klink

Aktuelle Aufführungen

Auf dem Sprungbrett

LA SCALA DI SETA
(Gioachino Rossini)

Besuch am
2. September 2016
(Premiere)

 

 

Beethoven-Campus Bonn

Die Bundesstadt Bonn ist seit geraumer Zeit keine Quelle für erfreuliche, gar richtungweisende Schlagzeilen im Vorfeld des 250. Geburtstages ihres großen Sohnes. Nach dem kommunalpolitischen Desaster des Vorjahres, besser bekannt als Schlussstrich unter das Projekt eines Festspielhauses, wächst sich jetzt die ursprünglich vermeidbare Sanierung der bald 60 Jahre alten Beethoven-Halle zu einer Extrembelastung der ohnehin schon miserablen Haushaltslage der Stadt aus. Beethovens bekannte Komposition Die Wut über den verlorenen Groschen erfährt eine jähe Aktualität. Das eigentliche große Jubiläum hat zwar inzwischen durch die Bundesregierung das Siegel einer „nationalen Aufgabe“ erhalten. Es wartet auch mit einem modernen Netzauftritt auf. Doch wollen die Vorbereitungen für das Großereignis so recht noch nicht Fahrt aufnehmen.

In dieser Situation, die leicht an einen grauschwarzen Teppich erinnert, erregt jeder helle Fleck, jede fundierte Initiative, jede innovative Idee willkommene Aufmerksamkeit. Ein solches Spotlight im kulturellen Dunkel ist der Start des teils von der Stadt, teils privatwirtschaftlich getragenen Beethoven-Campus mit einer Rossini-Produktion der Jungen Musiktheaterakademie in der Aula der Universität Bonn. Das Projekt einer szenischen Einrichtung der sechsten Oper des Genies von Pesaro ist die Initiative von Sibylle Wagner, der ehemaligen Chordirektorin der Bonner Oper. Ihre beim Internationalen Gesangswettbewerb der Kammeroper Schloss Rheinsberg 2015 gereifte Idee: „Mich hat es motiviert, ein Sprungbrett für junge Studierende zum Musiktheater aufzubauen und zu entwickeln.“ Ihre Tat dann ein Jahr später: sechs junge Sängerinnen und Sänger einzuladen, Bühnenerfahrung zu sammeln und auf sich aufmerksam zu machen. Dazu 20 Instrumentalsolisten, die entweder bereits als Orchestermusiker oder in Kammermusikensembles oder Meisterkursen Erfahrungen gesammelt haben. „Ich wollte“, sagt die inzwischen auch als Dirigentin gefragte Wagner, „schon immer ein eigenes Orchester gründen.“ Die daraus resultierende Aufgabe: Die heterogene Gruppe zu einem Klangkörper zusammen und auf Rossini-Niveau zu führen. Und all das – die diversen Proben inklusive – in gerade einmal zwei Wochen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Der von Rossini, gerade 20-jährig, 1812 für Venedig geschriebene Einakter La scala di seta mit einem Libretto von Giuseppe Maria Foppa nach der Komödie L’échelle de soie von François-Antoine-Eugène de Planard ist für das Debüt ein äußerst probates Material. Gewiss, auch eine der weitgehend vernachlässigten deutschen Spielopern hätte sich für das Experiment angeboten. Doch bringt die farsa comica alles mit, was sich für einen Test mit dem Sprungbrett eignet: eine leicht frivole Handlung um Liebe und Leidenschaft, Täuschung und Vergebung, die zudem niemals die Direktive jeder Rossini-Buffa prima la musica zu bestreiten trachtet. Eine Handlung, die zielsicher und in gut 90 Minuten – ohne überflüssige Pause – zum Schluss kommt, dabei strukturkonservativ auf die formelle Bestätigung der anfänglich heimlich Liebenden hinausläuft, nun vom reichen Grundbesitzer Dormont gebilligt. Ein Plot, der einem Lustspiel-affinen Regisseur alle Trümpfe in die Hand gibt, dem Publikum Spaß zu machen, also der Intention Rossinis Auftrieb und Bestätigung zu verleihen.

Foto © Joachim Müller-Klink

Ein solcher Regisseur ist Nikolaus Büchel, auch Schauspieler, Intendant und Theaterpädagoge, allemal. In einem von Ren Rong mit Mobiliar, Kleiderständern, Schminkgarderoben, Sofas und Sesseln ausgestatteten Bühnenbild vor dem von einer mächtigen Orgel überwölbten Hintergrund der Aula treibt er seine Protagonisten in eine Spielfreude, die in dem eher funktionellen Raum zum überspringenden Funken wird. Seine szenischen Mittel: Zuspitzungen im Stile der Commedia dell‘Arte, Slapstick und Situationskomik vom aktuellen Boulevard. Bis zur ersten angedeuteten Kopulationsszene vergehen zwar kaum zehn Minuten, Noch weniger Zeit braucht es, bis die ersten langen Röcke der Unterwäsche gewichen sind. Geschenkt! Denn rasch schließt die Szene zu Rossinis perlender Maschinenmusik auf. Die Damen sind prontissimo, wie es in einer Textstelle heißt. Das wissen natürlich die Herren. Und so kommt die Farsa in Gang und auf Touren. Der Spaß nimmt Formen an, in Bonn wie seinerzeit zu Venedig.

Für dieses Hochschalten sorgen mit größtem Engagement und jeder Menge Elan das Sänger- und das orchestrale Ensemble unter dem energischen wie einfühlsamen Dirigat Wagners, die auch für die Cembalo-Untermalung der Rezitative sorgt. Nach einem partiell leicht verpatzten Auftakt mit der vom Komponisten Sinfonia genannten Ouvertüre inspiriert die Vollblutmusikerin das sich mehr und mehr findende Team der Streicher und Bläser zu einer schon recht respektablen Performance. Die Musik perlt sanguinisch dahin, erreicht in einem ersten Finaletto, das einen Übergang zum zweiten Teil des Stücks markiert, bravouröses Tempo und instrumentales Format. Das wird nicht zuletzt in der quasi szenischen Instrumentalisierung – im wahrsten Sinne des Wortes – manifest, die sich die Dirigentin für diese Produktion hat einfallen lassen. An Verführung mag der Besucher denken, wenn die erste Violine in Gestalt der Konzertmeisterin Ronja Sophie Putz ihr Pult verlässt und sich neben dem Cembalo und somit der Dirigentin platziert. Tritt die Oboe von Sophie Hegewald aus dem Hintergrund heraus, umschmeichelt ihr warmer Klang symbolisch die Macht der Liebe. Und das prononciert von Marie Tetzlaff eingesetzte Englischhorn macht sich anheischig, den ewigen Reiz des Weiblichen zu illustrieren, nein besser noch: zu adeln.

Last, but never least: das Sextett der Sängerinnen und Sänger. Allesamt Künstler, deren Status in Ausbildung und Praxis geradezu nach Sprungbrettern schreit, nach Wettbewerben, Stipendien oder Praxisprojekten im Stil der Jungen Musiktheaterakademie. Das Niveau ist durchweg hoch. Gleichwohl sind Unterschiede in Können und Praxis unverkennbar. Unter den beiden Sängerinnen präsentiert als umschwärmte Giulia Liudmila Lokaitschuk das größte Potenzial. Ihr Sopran ist technisch ausgereift, meistert sicher und voluminös alle Anforderungen ihres Stimmfachs, bei freilich schwindendem Melos in der extremen Höhe. Sie bringt überdies komödiantischen Charme und vitale Spielfreude zur Geltung. Das lässt sich auch von der Mezzosopranistin Daria Rositskaja als Lucilla sagen, deren souveräne Bühnenerscheinung ihre in bereits zahlreichen Opernproduktionen gewonnene Kompetenz verrät. Auch hier dürfte der Weg weiter und nach oben gehen, vor allem mit weiteren Rollen bei Mozart und Rossini.

Der in Bonn geborene Tenor Julian Kokott, aktuell vor seinem Master-Abschluss an der Bonner Universität stehend, ist in der Riege der Herren als Dorvil eine Entdeckung. Sein für Rossini großartig geeignetes Timbre hat Eleganz und Schmelz; die Stimme ist geschmeidig und nimmt es scheinbar leicht mit den Schwierigkeiten im Crescendo und Accelerando auf, die Rossini seinen Lieblingen, den Tenören, abverlangt. Dorvils Bravourstück, die Arie Vedrò qual sommo incanto, wird gar zu einem  doppelten Highlight der Aufführung – für den famosen Kokott und den Rossini-Connaisseur. Nimmt sie doch die Arien-Superlative der Tenorpartien in La gazza ladra, Otello, Armida oder Semiramide vorweg. Mit Kokott entwickelt sich ein lyrischer Tenor, der vieles verspricht.

In der Partie des Dieners Germano ist Ilja Lapich überzeugend. Er zeichnet sich durch starke Bühnenpräsenz aus, die er mit seiner äußerst kräftigen, manchmal ins allzu Mächtige überdrehenden Bassstimme noch ausreizen zu wollen scheint. Kein Zweifel indes, auch der Weg von Lapich wird nur in eine Richtung gehen: nach oben. Die weiteren Besetzungen, der Bass Sebastian Kunz als Blansac und der Tenor Sascha Babik als Dormont, runden ein insgesamt beeindruckendes Sängerensemble adäquat ab. Babik kommt dabei rollenbedingt ein bisschen zu kurz. Dem Patron wird am Ende mehrfach übel mitgespielt: Er wird düpiert, hat wenig zu sagen, zu spielen und somit auch zu singen.

Das Publikum quittiert nach dem furiosen Finale Quando amor si fa sentire diese Farsa, die alles andere als eine Farce ist, vielmehr eine kleiner kulturpolitischer Leuchtturm im Dunkel der Beethoven-Kalamitäten am Rhein mit anhaltendem Jubel für alle Beteiligten. Es hat mit viel Geduld und Gelassenheit allerlei Strapazen überstanden, so drei Reden, darunter die des OB und die des Intendanten des Theaters der Stadt, sowie die anfangs hohen Temperaturen im Saal. Es hat mit Szenenapplaus und erkennbarer Hochachtung vor den Akteuren auf dem Sprungbrett herausgefunden und verspürt, dass an einem Ort der Zukunft, in der Universität, ein Weg eröffnet worden ist, der auch zu Beethoven führen und seine Mission mit Leben erfüllen kann.

Apropos Universität: Die naheliegende Überlegung, mit der Wahl des Aufführungsortes die Studentenschaft anzusprechen und über einen charmanten Einstieg für die Kunst der Oper zu gewinnen, dürfte nicht aufgegangen sein. Immerhin stellen doch viele Studierende von heute die Eliten von morgen. Immerhin werden sie es sein, die die Hochkultur für kommende Generationen entweder tragen oder ignorieren. In den ansonsten gut besetzten Aula-Reihen dominieren die Altersklassen und Bürgerschichten, für die Oper und Konzertsaal zu den Selbstverständlichkeiten des Lebens zählen. Doch gemach. Das Thema erlaubt keine Ungeduld. Und zum Glück steht der Beethoven-Campus mit seinen Programmambitionen erst ganz am Anfang.

Ralf Siepmann