Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Chris Haring

Aktuelle Aufführungen

Expressive Sinnlichkeit

CANDY'S CAMOUFLAGE
(Chris Haring)

Besuch am
2. September 2016
(Einmalige Aufführung)

 

Internationale Tanzmesse NRW,
Tanzhaus NRW, Große Bühne

Tanzfreunde wissen, wenn der Beamer eingeschaltet wird, gibt’s zusätzliche Bilder, die im günstigsten Fall irgendetwas mit dem Thema der Aufführung zu tun haben. So rechte Freude will in der Kombination neuerer Medien mit Tanz bis heute nicht aufkommen. Und so verwundert es kaum, dass die Vernetzung nur schleppend vorangeht, wenn nicht sogar auf recht niedrigem Niveau zum Stillstand kommt.

Emsiges Treiben hingegen herrscht auch nach Einbruch der Dunkelheit noch auf dem Hof vor dem Tanzhaus NRW und der angrenzenden Restaurant-Terrasse. Offenbar funktioniert die Vernetzung der Tanzschaffenden untereinander hervorragend. Obwohl der Einlass ganz ungewohnt schon zehn Minuten vor der Aufführung beginnt, ist an einen pünktlichen Beginn mal wieder nicht zu denken. Am Aufsichtspersonal liegt es nicht. Das agiert mit größter Umsicht, weist Besucherinnen und Besucher freundlich auf leere Stühle hin, um den Vorgang der freien Platzwahl unauffällig zu beschleunigen. Eine Besucherin hat unbedacht ihren Koffer mit in den Saal genommen. Da wird die Dame von der Organisation schnell und sehr bestimmt. Der Koffer muss raus aus dem Saal. Widerspruch zwecklos.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Allmählich kehrt Ruhe auf der bis auf den letzten Stuhl gefüllten Tribüne ein. Auf der Bühne warten drei Protagonistinnen in einem Wust von Scheinwerfern, Kabeln und Kameras. Im Hintergrund eine riesige Leinwand, auf der vorerst nicht viel mehr als eine schwarzweiße Textur erkennbar ist. Das Ambiente erinnert auf den ersten Blick an ein Filmstudio der 1960-er Jahre. Aber eben nur auf den ersten Blick. Choreograf Chris Haring fühlt sich inspiriert von den Filmversuchen Andy Warhols und lehnt sich an die Ästhetik an. Dabei ist für das, was nun folgt, der Begriff Tanz irreführend. Interaktion klingt zutreffender. Die Akteurinnen Stephanie Cummings, Katharina Meves und Karin Pauer sind zwar ausgebildete Tänzerinnen, mit diesem Wissen und Können allein kämen sie aber hier nicht sehr weit. Schließlich müssen sie neben den Texten, die sie zu sprechen und zu singen haben, auch noch mit der Technik umgehen. Und das heißt nicht etwa, zum vorgegebenen Zeitpunkt eine Digitalkamera von links nach rechts zu stellen. Vielmehr handhaben sie die Kameras so, dass ihre Aufführung gleichermaßen auf der Leinwand wie auf der Bühne stattfindet. Das gelingt genial gut. In einer Mischung aus Film noir und Pop-Art-Ästhetik finden auf der Leinwand Bilder statt, die nicht etwa aufgepfropft, sondern ohne das Bühnengeschehen vice versa nicht denkbar sind. Die perfekte Symbiose.

Foto © Chris Haring

Bereits Kobie van Rensburg hat am Theater Krefeld Mönchengladbach Ähnliches versucht, war aber an die Handlung der Oper gebunden. Haring ist hier im Vorteil, weil er auf die immer noch gültige Dramatik vertraut, die Schwarzweiß-Bildern innewohnt, und nicht von einer Handlung abhängig ist. Mehr noch: Mit Andreas Berger hat der Choreograf einen Komponisten zur Seite, der die Bilder auf den Takt genau unterstützen kann und ein Sound-Design entwickelt, das vom Geräusch bis zum melodiösen Song alle Möglichkeiten bietet. Und Berger nutzt seine Möglichkeiten in der ganzen Bandbreite aus. Das schafft Abwechslung, erfreuliche Überraschungsmomente und unterstützt die Dramatik auf der Bühne, die so intensiv wird, dass ein Mord, wie im Film noir nicht so selten, hier als Dreingabe hingenommen werden könnte.

Seinen Teil trägt auch Lichtdesigner Thomas Jelinek bei, indem er weißes Licht sparsam, aber höchst variabel verwendet. So sparsam allerdings, dass sich zumindest von den höhergelegenen Zuschauerplätzen aus nicht jeder der zahlreichen Kostümwechsel als notwendig erschließt. Zu ähnlich sind sich oft die Kleidungsstücke, die Julia Capp ausgewählt hat.

Nach rund 70 Minuten, die man zum größten Teil auf der vorderen Stuhlkante verbringt, geht das Geschehen auf der Bühne zu Ende. Neben hervorragender Unterhaltung im besten Sinne hat es vor allem eine Botschaft vermittelt: Die Zukunft hat – endlich – begonnen. Das Publikum zeigt sich tief beeindruckt, aber nach einem langen, langen Tag muss sich der Applaus auf das kürzestmögliche Maß beschränken.

Michael S. Zerban