Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
LESSONS OF LEAKING
(machina eX)
Besuch am
16. September 2016
(Premiere)
Spätestens seit Ferdinand von Schirachs Terror sind Zuschauer-Entscheidungen im Theater populär. Auch wenn es dem Publikumsgeschmack entgegenkommt, ist die Euphorie über diesen scheinbar demokratischen Coup vielleicht ein wenig verfrüht. Denn allzu gern und allzu schnell wird nach dem Ende des Stücks nicht mehr über den Inhalt gestritten, sondern darüber, wie die Entscheidung zustande kam und ob sie gerechtfertigt war. In der Werbung rechnet man das zu den gefürchteten Effekten und nennt es Kannibalismus.
Auch wenn bei Lessons of Leaking derselbe Mechanismus das Stück beendet, verliert er bei den „Lehrstunden der Undichtheit“ an Bedeutung. Denn zuvor konnte sich das zehnköpfige Publikum im Stück verausgaben. „Mitmach-Theater“ steht bei der so genannten Freien Szene hoch im Kurs und wird dort unter dem Begriff der Partizipation, also der Teilhabe, ausgiebig diskutiert. Selten gelingen diese Experimente allerdings so gut wie bei dem Stück, dass das siebenköpfige Medientheaterkollektiv machina eX zur Spielzeiteröffnung im Düsseldorfer Forum Freies Theater auf der Kasernenstraße zeigt. Warum das Werk allerdings partout einen englischen Titel tragen muss, erschließt sich bei der Theatergruppe aus Hildesheim nicht so recht.
Musik | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Gesang | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Regie | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Bühne | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Publikum | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Chat-Faktor | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Zumal die Handlung im Deutschland des Jahres 2021 spielt. Europa steht vor dem Zerfall, in Deutschland soll das Volk darüber abstimmen, ob es einen „Dexit“ gibt, also den Ausstieg Deutschlands aus der Europäischen Gemeinschaft. Eine interessante Ausgangssituation, die für die Zuschauer in der Folge allerdings kaum noch eine Rolle spielen wird. Denn Regisseurin Anna Fries hat zusammen mit Franziska Riedmiller den Bühnenraum aufgehoben und stattdessen eine „Gaming zone“ geschaffen, also einen Spielbereich, in dem das Publikum selbst recht schnell aktiv werden muss, wenn das Spiel weitergehen soll. Zwei Handlungsorte gibt es in dem menschgewordenen Computerspiel: Die Wohnung einer PR-Arbeiterin und eines Computer-Sicherheitsspezialisten sowie die konspirative Wohnung von Hackern. Höchst eindrucksvoll dabei der Medieneinsatz.
Nora Decker, Ayana Goldstein und Roland Bonjour spielen ihre Rollen wunderbar. Vor allem dann, wenn sie, wie bei Computerspielen üblich, in Endlosschleifen verfallen, weil eine Entscheidung des Spielers erwartet wird. Da sich das Publikum zum größten Teil aus jungen Erwachsenen zusammensetzt, sind hier also auch keine weiteren Spielanweisungen erforderlich. Bei der ersten Schleife dauert es noch einen Moment, bis die Systematik erkannt ist, dann stürzen sich die Besucher mit Feuereifer auf die Erfüllung ihrer Aufgaben. Spannend ist zu sehen, wie schnell sich in der einander größtenteils unbekannten Gruppe die klassischen Rollenbilder zeigen. Vom Macher über den Berater, den Hektiker, den freundlichen Helfer wie der vor der Technik Resignierende – im Übrigen nicht geschlechtergebunden.
Sorgfältig und zurückhaltend eingesetzte Musikrhythmen helfen Regisseurin Fries genauso wie der Spielverlauf, die Dramatik zu steuern und sukzessive zu steigern. Bis hin zu der Entscheidung, ob die hart erarbeiteten Unterlagen – der Schatz, den es ja immer im Spiel zu ergattern gilt – nun veröffentlicht wird oder nicht. Und zum ersten Mal hat das Publikum Gelegenheit, eine Entscheidung zumindest kurz zu diskutieren. Am Ende wird es noch einmal überrascht.
Nun ist der Begriff des partizipativen Theaters ja eigentlich auch falsch gewählt. Denn auch im Frontaltheater, bei dem der Zuschauer im Sitz und auf physischer Distanz bleibt, ist er ja – im günstigsten Fall – des Fühlens und Denkens als Handlungsoption nicht enthoben. Wenn man darunter aber den Besucher versteht, der aktiv – zumindest scheinbar – in das Bühnengeschehen eingreift oder zumindest körperlich auf der Bühne anwesend ist, dann hat machina eX ein großartiges Beispiel geliefert, wie man so etwas einfallsreich gestaltet.
Nach rund einer Stunde hat das Publikum eine immer wieder überraschende, kurzweilige Handlung erlebt, daran teilgenommen und ist begeistert. Tolle Darsteller, coole Action und viele stylishe Levels geschafft. Und dann ging es ja noch um …? Irgendwas mit Deutschland und seiner Kanzlerin. Egal, war toll. So ist das, wenn man distanzlos auf Dinge schaut.
Wer diese eindrucksvolle Erfahrung einmal auf sich wirken lassen möchte, hat dazu in den nächsten Tagen noch Gelegenheit und sollte sich das nicht entgehen lassen. Das FFT hat eine außerordentliche Spielzeiteröffnung hingelegt. Wenn das so weitergeht, wird es noch viel Diskussionsbedarf geben. Schön.
Michael S. Zerban