Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bernhard Müller

Aktuelle Aufführungen

Zwischen Disco und Work-out

MORE THAN NAKED
(Doris Uhlich)

Besuch am
8. September 2016
(Premiere)

 

 

Als nacktgebärdende Lebewesen hat die Menschheit ein seltsames Verhältnis zu ihrem Körper. Gewiss, den Tieren wächst später ein Fell, aber selbst so etwas kommt bei Menschen, denen das in Form übermäßigen Haarwuchses passiert, selten gut an. Immerhin, die Nacktheit anderer menschlicher Körper erregt uns immer noch so sehr, dass wir uns die Scham zum Schutz vor dem eigenen inneren Aufruhr haben einfallen lassen. Eine ausgesprochen unbefriedigende Lösung, sorgt doch die Scham nicht für das Verschwinden der Lust, sondern lediglich für eine Verschiebung in andere, noch schlechter kontrollierbare Bereiche. Mit dem Eintreffen der Uschi Obermaier in der Kommune Eins im Jahre 1968 in Berlin schien in Deutschland die ganze Prüderie der 1950-er Jahre in sich zusammenzufallen und für immer überwunden. Ein Trugschluss in sich, denn die Physiognomie der Obermaier zeichnete die weitere Entwicklung vor. Fortan war Nacktheit in Natur, Foto und Film dann genehm, wenn der gezeigte Körper dem „Schönheitsideal“ entsprach.

Dieses Schönheitsideal war in Deutschland schon sehr viel früher geprägt worden. Einen maßgeblichen Anteil daran dürfte die Filmemacherin Leni Riefenstahl getragen haben, die das ästhetische Empfinden des Körpers wohl bis heute beeinflusst. Mit dem Aufkommen der Massenmedien und der damit verbundenen Werbung wirkt das Bild des stählernen, muskelbewehrten Körpers auf der männlichen Seite wie das der schlanken Frau mit schmalen Hüften und proportional dimensionierten Brüsten auf der weiblichen Seite bis heute in uns nach. Jegliches normative Abweichen zieht Skandalrufe nach sich. Seien es Menschen mit körperlichen Gebrechen oder Menschen im Alter, die ihren Körper öffentlich zeigen – die Gesellschaft sanktioniert das sofort. Dabei ist das „öffentliche Bild“ längst in Schieflage geraten. Schaut man sich beispielsweise auf Internetseiten mit Porno-Videos um, die bekanntlich die meistbesuchten im Netz sind, dann ist das Staunen groß. Da werden Körper begehrt, die mit diesem „Schönheitsideal“ so viel zu tun haben wie eine Teetasse mit Kaffeesatz. Und die Besucherzahlen, die dort genannt werden, gehen in die Hunderttausende. Anscheinend haben also die Bedürfnisse der Menschen mit den hochglanzgeschönten „Idealkörpern“ wenig zu tun.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Für die Choreografin Doris Uhlich wirft das die Frage auf, ob wir das ästhetische Diktat nicht aufbrechen müssen. Und damit am besten auch gleich die Scham als untaugliches Modell über Bord werfen, „um eine gesellschaftliche Nacktbewegung anzuzünden“. Dazu ist aus ihrer Sicht hilfreich, zunächst den Blick auf einen Haufen Fleisch zu richten. Also nicht den einzelnen Körper in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen, sondern gleich mal 20 nackte Menschen auf die Bühne zu schicken. Und entgegen der Vorankündigung, dass hier nicht der Voyeurismus bedient werde, findet sich zur Spielzeiteröffnung im Tanzhaus NRW ein deutlich geändertes Publikum zur Premiere ein. Da gibt es plötzlich auffallend viele ältere Herren, die ohne Begleitung Einlass begehren. In einer Gesellschaft, in der zunehmend dogmatisch der nackte Körper „political correct“ geächtet wird, sind auch solche Gäste bei einer Tanzaufführung gern gesehen. Und das schwere Atmen, mühsam unterdrückt, als die Tänzer und Tänzerinnen die blanke Bühne betreten, in deren Hintergrund einzig das Musikpult steht, an dem die Choreografin, lediglich mit einer silberfarbenen Jacke bekleidet, die Musik auswählt, müssen die Sitznachbarn als Teil des Ganzen ertragen.

Foto © Andrea Salzmann

Denn natürlich geht es um Voyeurismus. Um die Lust hinzuschauen. Sich an den nackten Körpern zu erfreuen. Schon in der ersten Szene geht doch der Dank an die Choreografin. Wer hat sich denn als Pubertierender nicht die Situation vorgestellt, dass die Menschen auf der Tanzfläche einer Diskothek alle nackt sind? Feuchte Träume nannte man das. Vierzig Jahre später wird der Traum erfüllt. Gut, es ist nicht mehr dieselbe Musik. Sondern mehr so ein unsortiertes Wummern. Aber es sind die jungen Körper einer durchschnittlichen Menge. Und sie haben die gleichen Makel und besonderen Schönheiten wie damals, als die älteren Herren noch sehr jung waren und sich Gedanken um die Größe ihres Penis‘ machten, genauso wie die älteren Damen über die Größe ihres Busens nachdachten.

Allzu schnell stellt sich der FKK-Strand-Effekt ein. Ein von der Choreografin ja durchaus gewünschter Effekt. Die Erregung legt sich und man gewinnt wieder einen freien Blick für die tänzerische Leistung. Im langweiligen, sich überwiegend nur diffus ändernden Licht von Nadja Räikkä schwankt die Darstellung zwischen Diskotheken- und Fitnessclub-Besuchern. Die Musik hilft ohne Erläuterungen nicht viel weiter, ist allenfalls Geräuschkulisse. Verschenktes Potenzial. Und setzt zu oft und zu lange aus, um die Dynamik durchzuhalten.

Selbst mächtig vom Hagelschlag getroffen und abseits jeden Schlankheitswahns präsentiert sich die Choreografin konsequent selbst in einem Solo, in dem sie wenig überzeugend ihre Jacke schleudert.

Im vorletzten Teil „wackeln, schnalzen, schwabbeln, schwitzen“ die Körper der Tänzer beiderlei Geschlechts noch einmal so ordentlich, dass es zum Vergnügen der Besucher gerät. Längst hat jeder seinen Lieblingstänzer erkoren, auf den er sich konzentriert. Denn es gibt die Masse Mensch beständig nicht. Und es gibt die Beliebigkeit des nackten Körpers nicht. Egal, wie unbefangen die Körper miteinander umgehen, der besondere Körper ist für jeden Besucher dabei. Und genau so ist das richtig. Findet das Publikum, das für Tanz-Verhältnisse euphorisch applaudiert. Ein gelungener Auftakt für die neue Spielzeit, der viele Fragen aufwirft.

Bei der anschließenden Party bleiben die älteren Herren in den Ecken stehen. Möglicherweise tauchen die Tänzerinnen und Tänzer ja noch auf der Feier auf. Die mit den durchschnittlichen und deshalb so extrem schönen Körpern. Einen Blick noch auf sie zu werfen, wenn sie angezogen sind, scheint begehrenswert. Ein Phänomen, das vielleicht auch noch in der kommenden Spielzeit geklärt wird. Einen Versuch ist es wert.

Michael S. Zerban