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Realität oder Wahn? Diese Frage bestimmt die Oper Der Sandmann des Schweizer Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini zum Saisonauftakt in der Oper Frankfurt. Gezeigt wird das Werk in der Uraufführungsproduktion von 2012 am Theater Basel. Scartazzini und sein Texter Thomas Jonigk gelingt ein moderner Opern-Psychothriller, der auch das junge Publikum für die Oper begeistern kann.
Die Vorlage zum Libretto lieferte Der Sandmann von E.T.A. Hofmann. Jonigk verwertete daraus, was sich eignet, um Handlungs- und Personenstränge zu verdichten. Dass er damit gleichzeitig die Möglichkeit zur Unterscheidung zwischen Realität und Traumata völlig außer Kraft setzte, gehörte zu seiner Absicht.
Musik | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Gesang | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Regie | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Bühne | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
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Im Mittelpunkt steht Nathanael, ein junger Schriftsteller mitten in einer Schaffens- und Lebenskrise. Er arbeitet an seinem autobiographischen Roman mit dem Titel Der Sandmann und weckt damit alle Horrorszenarien, die ihn in seiner Kindheit traumatisierten. Damit beginnt die Oper. In sich zusammengekrümmt kauert Nathanael an der rechten Bühnenwand, gefesselt von einer Geistermusik, die schwer stöhnend und pochend klirrende und gleißende Klänge über Akkordeon, Celesta und vokale wie instrumentale Stimmen erzeugt, überaus subtil, gurgelnd, leise, scheinbar ohne Ende. Scartazzini zeigt, wie aus atonalen Klängen und Sprechgesängen in ungefährer Tonlage abgründige Horrorszenarien zu erzeugen sind. Auch der Aufschrei Nathanaels kann das Bedrohlich-Ausweglose dieser Eingangssituation nicht beenden.
In neun weiteren Szenen durchschreitet Nathanael alle Phasen einer paranoiden Schizophrenie. Wie aus dem Nichts tauchen sein Vater und dessen Freund Coppelius auf. Gemeinsam sezierten sie zu Lebzeiten Frauenleichen. Damit Nathanael nichts davon mitbekam, wurde ihm der nächtliche Besucher Coppelius als Sandmann erklärt, der den Kindern Sand in die Augen streut und damit ihre Seele raubt. In einer dieser Nächte kamen beide bei einem Brand ums Leben. Nun tauchen sie wieder auf. Coppelius als Sandmann, der Goldstaub streut, um die Seelen zu zerquetschen, der aber auch schießt, gleich mehrfach, und tötet, wenn auch nur im Traum. Gemeinsam mit dem Vater bedient er unter wechselnder Maske Nathanaels Träume vom großen Schriftstellerruhm und baut eine chipgesteuerte Frauenpuppe als Ersatz für die sperrige Clara. Sie, die einstige Muse und geliebte Nathanaels, repräsentiert die Realität, verkörpert gleich zu Beginn aber auch die personifizierte Hilflosigkeit gegenüber dem längst dem Wahnsinn verfallenen Nathanael.
Das hat Folgen. Nach ihrer kurzen Rede am Grab des toten Nathanaels glaubt sie, den Vater und Coppelius gesehen zu haben. Ermattet kauert sie in der Schlussszene am linken Bühnenrand und umklammert krampfhaft einen Stapel Exemplare des Sandmann-Romans. Coppelius und der Vater lesen gemeinsam den letzten Satz, den Clara mit dem Attribut „verrückt“ als Bezeichnung ihres Zustands beendet. In diesem Augenblick wird klar, dass das Buch, das laut Clara über ein paar wirre, zusammenhanglose Seiten nicht hinausgekommen ist, von Anfang an fertig geschrieben war. Das erklärt, warum in den zehn Szenen Verhalten und Reaktionen scheinbar zusammenhanglos nebeneinander erfolgten.
Bühnenbildnerin Barbara Pral baut für dieses psychotische Opernszenario einen rechteckigen raumgreifenden, von gleißendem Neonlicht umrahmten, pechschwarzen Guckkasten und wählt kalt glänzende Schwarz-, Weiß und Rottöne zur Ausgestaltung eines spärlich ausgestatteten Raumes. In der Mitte steht ein Tisch mit Schreibmaschine, eingemauert von gestapelten Exemplaren des gedruckten Sandmann-Romans, ein Stuhl steht am Rand, gegenüber ein Fenster mit Aussicht in fahles Nichts, an der schwarzen Rückwand sind Türen und Zugänge, aus welchen der Chor laut schnatternd hereinstürmt oder brüllend skandierend hinausströmt, immer schnell formiert zu kunstvoll komponierten grotesken Bildsequenzen von schauerlich schrecklicher Wirkung. Regisseur Christof Loy zelebriert in jeder Phase der Darstellung die Langsamkeit der Personenführung und die Wirkung des Bildhaften zur Verstärkung des Augenblicks.
Scartazzini nutzte alle Möglichkeiten des Sprechgesangs, des gesprochenen Wortes wie kurzer Gesangspartien, um über dieses Medium Charaktere und Empfinden scharf zu zeichnen. Mimisch und sängerisch überwältigend, mit einem überaus wandlungsfähigen Bariton durchdringt Daniel Schmutzhard die Rolle des Nathanael. Agneta Eichenholz verleiht der Clara mit ihren weich intonierten Passagen Wärme, während sie mit faszinierender Wandlungsfähigkeit in ihrer Doppelrolle der Automatin Clarissa eine scharfe, vibratofreie und damit seelenlose Stimme verleiht. Die Tenöre Thomas Piffka und Hans-Jürgen Schöpflin gestalten Vater und Coppelius mit sattem Timbre und groteskem Spielwitz.
Für ein temporeiches Spiel garantiert Hartmut Keil am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters. Bemerkenswert unaufgeregt koordiniert er das durch Celesta und Akkordeon erweiterte, im Übrigen klassisch aufgestellte Sinfonieorchester und erzeugt in einer Verbindung aus Transparenz, Schärfe, Klarheit und nuancierter Dynamik subtile Dramatik. Scartazzinis Musik wirkt dadurch auch in den atonalen Passagen geradezu stimmungsvoll schaurig und gruselig, verstärkt durch mancherlei Affekte von geradezu moderner filmmusikalischer Qualität, wie sie im Psychothriller des Gegenwartskinos schon fast traditionell ist.
Nach 80 Minuten geht das Licht aus, doch der Spukt ist längst nicht vorbei. Loys Inszenierung eines Bühnenwerkes, dessen Musik nicht unberührt lässt, gräbt sich tief in das Bewusstsein. Hörens- und sehenswert, doch nicht für zarte Gemüter.
Christiane Franke