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Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Anne-Laure Lechat

Aktuelle Aufführungen

Nackt in Krefeld

LE RÉCITAL DES POSTURES/
ACROSS THE BORDER

(Yasmine Hugonnet, Antonello Tudisco)

Besuch am
2. September 2016
(Einmalige Aufführung)

Internationale Tanzmesse NRW,
Krefeld, Fabrik Heeder

1905 als Tapetenfabrik errichtet, wurde die Fabrik Heeder 1989 zum Kulturzentrum umgenutzt. Heute bespielt das Theater Krefeld Mönchengladbach die beiden Studiobühnen, auf denen seit 1994 auch die Reihe Move! – Krefelder Tage für modernen Tanz stattfindet. Weil in Krefeld die neue Saison noch nicht begonnen hat, bietet es sich an, die professionell ausgestatteten Bühnen für die Tanzmesse zu nutzen.

Mit zwei Produktionen werden gleich beide Bühnen am Freitagnachmittag belegt. Auf der kleineren Bühne zeigt Yasmine Hugonnet Le Récital des Postures, anschließend führt die Kompanie Interno 5 Across the Border – a Human Journey Into the Beauty auf der großen Bühne auf.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Der Boden wie der Hintergrund der schwarzumrandeten Bühne ist weiß ausgeschlagen. Als das Publikum verspätet eingelassen wird, steht Yasmine Hugonnet gebeugt in der rechten hinteren Hälfte des Raums. Sie trägt einen hellgrauen Ganzkörperanzug, darüber einen blauen Pullover. Und fordert in den ersten Minuten die Geduld des Publikums heraus, das mucksmäuschenstill sitzt und darauf wartet, dass etwas passiert. Die ersten Bewegungen geschehen zögerlich. Nur allmählich, meditativ, verändert sich die Lage des Körpers, bis er wieder in die Ausgangsstellung zurückfindet. Fast eine Viertelstunde dauert es, bis das Gesicht der Tänzerin zum ersten Mal zu sehen ist. Immer wieder verbergen die brünetten Haare das Gesicht. Schließlich entkleidet sich Hugonnet, immer noch entrückt, ohne jeden Kontakt zum Publikum.

Foto © Interno 5

Das Gesicht bleibt auch im genial subtilen Weißlicht-Wechsel maskenhaft. Variationen finden in der Frisur statt. Hugonnet wechselt in stehende Posen, schließlich in Bewegungsabläufe. Alles sehr zurückgenommen, der Körper ist so gespannt, dass das Zittern nicht ausbleibt. Wenn die Haare zum Schnurbart werden, geht ein bisschen die Luft aus. Abschließend bindet die Tänzerin die Haare hoch, geht in die Knie und singt guttural – ohne auch nur einen Gesichtsmuskel zu verziehen – ein paar Worte. Die so entstandene Magie bleibt trotz einzelner Lacher auch dann noch im Raum stehen, als das Publikum längst begeistert applaudiert.

Kehrt die Nacktheit auf die Tanzbühnen zurück? Bei Hugonnet wirkt es so, als könne es gar nicht anders sein – ein bisschen trotzig vielleicht sogar. In den letzten beiden Jahren scheinen die Nacktauftritte zugenommen zu haben. Dabei spielt die Naivität einer Isodora Duncan keine Rolle mehr. Alexandra Waierstall oder eben auch Yasmine Hugonnet zeigen, wie man ein künstlerisches Verständnis entwickelt, das mit Voyeurismus oder Stripshow nichts zu tun hat. Und die Männer emanzipieren sich – oder versuchen es zumindest.

Zugegeben, die große Studiobühne der Fabrik Heeder bietet mit ihrer kalkstaubhaltigen, schalen Luft nicht die idealen Ausgangsvoraussetzungen, um eine Reise über die Grenzen hin zur wahrhaften Schönheit anzutreten. Trotzdem versucht die Kompanie Interno 5 genau das. Sechs Tänzer versammeln sich unter der choreografischen Leitung von Antonello Tudisco auf der schmucklosen Arbeitsbühne, die im Hintergrund von einem schwarzen Gaze-Vorhang begrenzt wird. Licht spielt bei Giuseppe di Lorenzo eine untergeordnete Rolle. Auch hier verlieren die Männer alsbald ihre Kleidung, laufen noch eine Zeitlang in Unterhosen herum, ehe sie sich gänzlich nackt präsentieren. Ihr langweiliges Macho-Gehabe lässt jede Ironie vermissen. Es gibt wohl kaum etwas Blöderes als Männer, die aus Unterhosen steigen. Da helfen auch Tätowierungen nicht.

Was in Italien, dem Herkunftsland der Kompanie, mit seiner weit verbreiteten Homophobie noch für so etwas wie Aufsehen erregen dürfte, sorgt in Deutschland inzwischen eher für ein gepflegtes Gähnen. Ob die durchtrainierten Körper Frauen im Publikum so etwas wie Lust abgewinnen können, ist nicht bekannt. Der künstlerische Aspekt jedenfalls bleibt unterdurchschnittlich. Und die Reise zur Schönheit bleibt im Mief der vorübergehend in Betrieb genommenen Bühne hängen.

Nacktheit ist im zeitgenössischen Tanz in jedem Fall eine ernstzunehmende Option. Der Umgang damit funktioniert, wie an diesem Nachmittag eindrucksvoll demonstriert, aber nur dann, wenn es gelingt, damit eine ungewöhnliche Spannung aufzubauen. Für eine massenhafte Verbreitung um ihrer selbst willen taugt sie nicht.

Schade, dass die Krefelder die Aufforderung zum Tanz glatt ignoriert haben.

Michael S. Zerban