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Das hat es wohl noch nicht gegeben: Rund 85 Musiker musizieren für 250 Zuhörer in dem eher kleinen Raum des Theaters Luzern den Prometeo von Luigi Nono – eine „Tragödie des Hörens“, an die sich sonst nur die größten Opernhäuser, Festspiele oder Musikfestivals heranwagen.
Um es vorwegzunehmen: Einen gelungeneren Start seiner Intendanz hätte sich Benedikt von Peter selbst nicht bereiten können. Dabei ist er auch ein nicht geringes Risiko eingegangen – aber: wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Zwei Jahre allein hat man um die Aufführungsrechte an diesem ungewöhnlichen Standort gerungen.
Musik | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
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Es handelt sich bei dem 1984 uraufgeführten Werk Nonos in keiner Weise um eine Oper traditionellen Formats. Es gibt keine Handlung. Die Textfragmente sind nicht zur klassischen Vermittlung von Handlungen, Dialogen oder diskursiven Auseinandersetzungen zusammengestellt, sondern werden nachgerade zur Erregung von Irritation, Unsicherheit und eines Schwebe- und Trancezustandes montiert. Mithin ein Gebrauch des Wortes, der dem Sinn und Zweck von Sprache nachgerade entgegengesetzt ist. Dabei handelt es sich um Texte von Aischylos, Sophokles, Euripides, Hölderlin, Nietzsche, Walter Benjamin und anderen, die Massimo Cacciari zusammengestellt hat.
Ursprünglich basierend auf der Aischylos-Vorlage, wandten sich Nono und sein Dichter Cacciari angesichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts immer mehr von klaren Strukturen und Visionen des Prometeo in der ursprünglichen Form ab und schafften den Weltentwurf einer posthistorischen Menschheit im Übergang, in der Transition, erschöpft von all vorangegangener Aufklärung und allem pathetischen Gestus. Allenfalls ein entferntes Sehnsuchtslicht nach Benjamins „... schwacher messianischer Kraft ...“ erhoffend, schwebt die Musik in ungeahnte ästhetische und ätherische Gefilde, nahezu unwirklich am Schluss, ebenso „besonders“ und ungewöhnlich wie zuvor schon die Textfragmente.
Durch die wirkungsvoll eingesetzten, beweglichen Projektionen von David Hedinger werden diverse Texte als fragmentierte Elemente im ganzen Bühnenraum und auch auf den Körpern der Akteure und Zuschauer sichtbar, entgleiten aber durch ihre Bewegung dem Auge und Verstehen des Betrachters sofort wieder.
Der gesamte Bühnen- und Zuschauerraum ist von Natascha von Steiger nach Art des Shakespearschen Globe Theaters umgestaltet und beherbergt vor allem auf den Rängen nicht weniger als vier Orchestergruppen mit zwei Dirigenten, einem Chor, fünf Gesangssolisten und mehreren Instrumentalsolisten. Der gesamte Zuschauerraum ist von den traditionellen Theatersitzen befreit und der Betrachter sitzt auf einfachen Stühlen, Hockern und nicht zuletzt auf ausgelegten Matratzen. Nach den insgesamt elf Aufführungen wird zum normalen Theater zurückgebaut werden.
Eine besondere Rolle kommt dem Experimentalstudio des Südwestrundfunks unter Detlef Heusinger zu, der auch für das gesamte Raumklang-Konzept verantwortlich zeichnet. Das Team hat bereits vorangegangene Produktionen sowie eine CD-Einspielung unter Ingo Metzmacher begleitet und kann mittlerweile als unverzichtbarer Sachwalter der live-elektronischen Realisation des Werkes gelten. Heusinger ist zusammen mit seinen Partnern Reinhold Braig, Joachim Haas und Sven Kestel in der Mitte des Parketts positioniert, verfolgt und kreiert anhand zweier großdimensionierter Partituren unter der Gesamtleitung des Dirigenten Clemens Heil und der zweiten Dirigentin Matilda Hofman den gesamten Klangraum mit aufwändiger elektronischer Maschinerie, deren Bedienung durch die vier Spezialisten einen eigentümlich spannenden Eindruck hervorruft und zur unbestimmten, transitorischen Atmosphäre beiträgt.
Clemens Heil hat die musikalische Leitung des Gesamtapparates mit ausdrucksstarker Geste und expressiven Ganzkörpereinsatz grandios im Griff.
Es ist unmöglich alle künstlerischen Leistungen an dieser Stelle im Einzelnen angemessen zu würdigen, hervorzuheben ist stellvertretend der Chor des Luzerner Theaters unter der Leitung von Mark Daver und das Luzerner Sinfonieorchester, das Außerordentliches leistet.
Das Publikum lauscht immerhin zweieinhalb Stunden pausenlos wie in der Arche Noah dem eigenen, nicht kontrollierbaren Schweben durch philosophische, historische Klangräume hin zu zerbrechlichster Zukunftsvision, die unbestimmt bleibt. Alle Künstler erhalten langanhaltenden Applaus mit vielen Bravorufen, nicht nur für das Leitungsteam.
Die Luzerner haben mit der Berufung Benedikt von Peters einen mutigen Schritt gewagt und lassen sich von ihrem neuen Intendanten mit großer Aufgeschlossenheit zum Aufbruch in eine neue Ära verführen. Sie werden angesichts vorangegangener Leistungen von Peters an deutschen Häusern ganz sicherlich noch viele spannende und auch verstörende Erfahrungen machen dürfen.
Achim Dombrowski