Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Robert Recker

Hintergründe

Der Weg ist das Ziel

Unterwegs mit dem Operndolmuş der Komischen Oper Berlin – ein Bericht von den Stationen in Belgrad und Sofia
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Oper sollte für alle da sein und nicht nur für Bildungsbürger. Dieser Anspruch hat in der Komischen Oper seit den seligen Zeiten von Walter Felsenstein Tradition. Diesen Gedanken griff Andreas Homoki am Ende seiner Intendanz auf und öffnete sich den türkischen Mitbürgern Berlins, die die Gesellschaft der Stadt zwar stark prägen, aber kaum das Opernangebot wahrnehmen. Deshalb wurde 2011 das multikulturelle Projekt Selam Opera! initiiert, das als ersten Schritt türkische Untertitel im Opernhaus installierte und auf der Bühne mit Ali Baba und die 40 Räuber eine binationale Kinderoper präsentierte. Doch nicht genug damit. Denn was kann man tun, wenn die Menschen, die man erreichen möchte, trotzdem nicht kommen, sei es aus Schwellenangst oder weil schlicht Wissen oder Erfahrung fehlen? Die Antwort gab der als ehemaliger Quartiersmanager mit interkultureller Arbeit bestens vertraute Projektleiter Mustafa Akça: Man fährt dorthin, wo Menschen unterschiedlicher Kulturen anzutreffen sind und versucht, sie vor Ort für die Oper zu begeistern.

Also gründete Akça in der Spielzeit 2012/2013 den Operndolmuş. Der Dolmuş, in der Türkei die Bezeichnung für Sammeltaxi, ist in Berlin ein Kleinbus, in dem ein Kleinstensemble von Musikern durch die Bezirke tourt und in multikulturellen Einrichtungen, in Frauentreffs oder Nachbarschaftshäusern ein speziell auf die dortigen Zuhörer zugeschnittenes Opernprogramm aufführt. Natürlich bei freiem Eintritt. Das Projekt stieß beim Publikum auf so großes Interesse, dass Akça zusammen mit seinem Mitstreiter Oliver Brandt eine zunächst verrückt scheinende Idee entwickelte: die Ausweitung und Übertragung des Berliner Operndolmuş auf die Gastarbeiterroute. Darunter versteht man nicht etwa, wie man meinen könnte, die Anreise von türkischen und südosteuropäischen Gastarbeitern aus ihrer Heimat nach Deutschland. Nein, es handelt sich um die umgekehrte Richtung, nämlich die in Urlaubszeiten bevorzugte Autoroute der Werktätigen nach Hause. Genau diese fast 3000 km lange Strecke von Berlin über München, Wien, Belgrad, Sofia nach Istanbul einmal mit dem Operndolmuş zurückzulegen und dort in passenden Kulturzentren oder Alternativbühnen ein Opernprogramm zu präsentieren, ist der Plan von Akça und Brandt. Und tatsächlich gelingt den beiden mit viel Engagement und großem Organisationsgeschick, wozu eine Recherche-Reise mit Unterstützung der lokalen Goethe-Institute im vergangenen Winter gehört, die Realisierung.

Den Berg zum Propheten tragen

Im gecharterten Kleinbus nehmen die beiden Solisten Julia Domke und Johannes Dunz, drei Instrumentalisten, eine Maskenbildnerin sowie etliche Begleiter aus Dramaturgie und Presse Platz, dazu in einem weiteren Auto ein Kamerateam, das die Etappen in einem Videotagebuch dokumentiert. Denn natürlich sollen die Daheimgebliebenen und die Öffentlichkeit zeitnah vom Ablauf der Reise und allen Neuigkeiten informiert werden. Mit im Gepäck befindet sich eine eigens für die Reise konzipierte 45-minütige Musiktheaterrevue, die an allen angesteuerten Orten jeweils zweimal präsentiert wird. Die Dramaturgin Johanna Wall hat sie entworfen und dafür geeignete Stücke aus dem breiten Repertoire der Komischen Oper ausgesucht. „Wir haben uns auf die Suche nach Geschichten über die Gastarbeiterroute gemacht und sind auf Themen gestoßen, die uns bekannt vorkamen – und zwar aus den großen Werken der Operngeschichte von ihren Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Es sind Geschichten über Fernweh und Abenteuerlust, Überforderung, Sehnsucht auf eine bessere Zukunft, aber auch von Heimweh und der Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen“, sagt Johanna Wall in ihrer souverän in der jeweiligen Landessprache vorgetragenen Anmoderation. Die Regisseurin Anisha Bondy verknüpft die Arien zu einer lockeren Szenenfolge. So trifft Monteverdis abenteuerlustiger Ulisse auf Mozarts lockende Idomeneo-Elettra, Rossinis tüchtiger Figaro auf Bizets selbstbewusste Carmen, Dvořáks hin- und hergerissene Rusalka auf Tschaikowskys entsagenden Lenski und zum beschwingten Abschluss kommt Dostals urlaubsfreudiger Kasulke aus Clivia zu Wort: „Man muss mal ab und zu verreisen“. Das Programm geht teilweise auch direkt auf türkische Besucher ein. So enthält es nicht nur den berühmten Song Dağlar Dağlar, den Julia Domke wunderbar stimmig vorträgt, sondern sie singt auch einen Teil der Carmen-Habanera in Türkisch.

Es ist der direkte Kontakt zu den Musikern, der das Publikum überall anspricht, beispielsweise wenn sich Johannes Dunz für Rossinis Figaro, den er übrigens mühelos in der originalen Baritontonart singt, einen Mitspieler aus dem Auditorium holt. Mit Dunz ist im Übrigen ein besonders hoffnungsvoller junger Tenor mit von der Partie, mit Julia Domke eine ebenso vielversprechende Sopranistin. Das Paar singt sich nicht nur fabelhaft und stilsicher durch seine unterschiedlichen Rollen, es bezaubert auch im natürlichen und frischen Zusammenspiel. Doch weil die musikalische Darbietung so stark ist, muten die Interviews, die Wall im Anschluss an die Opernrevue mit Zeitzeugen führt, in beiden Balkanmetropolen nicht wie eine passende Ergänzung an, sondern wie gut gemeinte Anhängsel. Die Informationen über die Krankenschwester, die in der Klinik auch türkische Gastarbeiter behandelte, die junge Freiburgerin mit serbischen Wurzeln, die bewusst während des Krieges nach Belgrad ging, um dort Wirtschaft zu studieren oder den Leiter des Goethe-Instituts in Sofia, der von seiner Bekanntschaft mit Gastarbeiterkindern spricht, sind zumindest in diesem Rahmen wenig ergiebig. Denn dem Publikum geht es zumindest in allen vier Spielstätten Belgrads und Sofias vor allem um das besondere musikalische Erlebnis.

So nah wie möglich an die Menschen

In der quirligen serbischen Hauptstadt, die vor Leben nur so sprüht, spielt die Truppe im CZKd, einer alternativen Kultureinrichtung gleich neben der ehemaligen deutschen Botschaft. Anwesend ist hier Borka Pavicevic, eine Ikone der alternativen serbischen Theaterszene, die sich ebenso angetan von der Vorstellung zeigt, wie später die zahlreichen, vorwiegend jungen Zuschauer im vom Abriss bedrohten Szeneclub KC Grad. In der weniger hektisch wirkenden bulgarischen Metropole findet die Revue im stattlichen Hochzeitssaal des Krasno Chitalishte, einem Kultur- und Lesehaus inmitten einer Hochhaussiedlung, allerdings vor gelichteten Reihen statt. Doch die in die Nachmittagsvorstellung Gekommenen, darunter einige Senioren, sind glücklich. Wie die pensionierte Ärztin, die aus pekuniären Gründen staatliche Kulturveranstaltungen nicht besucht und umso dankbarer ist, hier eine hochkarätige Musikdarbietung umsonst erleben zu dürfen. Die Abendvorstellung im Red House Centre for Culture and Debate ist dagegen voll. Die Zielgruppe freilich – es sind Erwachsene aus wirtschaftlich schwachen Verhältnissen – ist kaum vertreten, stattdessen sind es Kollegen und Freunde der Einrichtung. Doch Tzevetelina Iossifova, die Leiterin des Red House nimmt es gelassen. Für sie ist die Veranstaltung eine Probe für ein Herzensprojekt: Pavillon 19 will genau jenes tun, was die Berliner mit ihrem Operndolmuş vorleben, sich nämlich verstärkt um die Bevölkerungsschichten kümmern, die bisher wenig Berührung mit dem Kulturbetrieb hatten.

Nach den Aufenthalten in Belgrad und Sofia heißt es Abschied nehmen von einer harmonischen Truppe, die mit Herzblut dabei ist und in jedem Moment gute Laune versprüht. Und von einer Reise mit inspirierenden persönlichen Begegnungen und Eindrücken. Deshalb regt sie auch zum Fantasieren über Nachfolgeunternehmen an. Warum nicht auch abseits der Großstädte in Dörfern und kleinen Ortschaften auftreten, durch die die Gastarbeiterroute ja auch führt. Denn darin liegt ja eine Hauptmotivation von solch kulturellem Austausch. „Ich möchte so nah wie möglich an die Menschen herankommen, wenn ich Musik mache“, sagt der Kontrabassist Arnulf Ballhorn stellvertretend für die Gruppe. Das gelingt dem Projekt auf beispielhafte Weise.  

Karin Coper