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Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Daniel Poensgen

Hintergründe

Beziehungen und Außenseiter

Vom 12. August bis zum 4. September fand in Berlin die 28. Ausgabe des Festivals Tanz im August statt. Mehr als 17.000 Besucherinnen und Besucher nutzten die Gelegenheit, sich ein Bild von der Vielfalt des Tanztheaters der Gegenwart zu verschaffen. Bewegende Momente gab es obendrein.
Claire Cunningham - Foto © Hugo Glendinning

Die diesjährige Ausgabe des Berliner Festivals Tanz im August beginnt mit einer frohen Meldung: Der Vertrag von Virve Sutinen, der Künstlerischen Leiterin, wurde um zwei Jahre verlängert. Die quirlige, dem Gefühl nach omnipräsente Kuratorin verantwortet diesmal ein Programm, das einerseits die Buntheit menschlicher Beziehungen und andererseits die Disparatheit der modernen Gesellschaft widerspiegelt. Ausgrenzung, Rassismus, Kriegserfahrung, Identitätssuche, Leben mit einem Handycap, das Älterwerden, das sind aktuelle Themen, die auf der Bühne tabulos befragt werden. Ergänzend gibt es für das Publikum eine Reihe von Möglichkeiten, mit den künstlerischen Teams ins Gespräch zu kommen. Nicht nur in etablierten Formaten wie den Diskussionsrunden nach den Vorstellungen, sondern auch in der neu kreierten „Bibliothek im August“. Hier liegen Bücher zum Schmökern bereit, die beteiligten Künstlern als Inspirationsquelle dienten, hier wird aber auch der kürzlich verstorbenen Choreografin Rosemary Butcher gedacht, die vergangenes Jahr ihre Werkschau noch vital begleitet hatte.

Eröffnet wird der Festivalsommer mit dem neuesten Werk von Emanuel Gat, der zuletzt 2013 zu Gast in Berlin war. In Sunny, kürzlich in Venedig uraufgeführt, lässt er sein zehnköpfiges Ensemble zu einem elektronischen Soundmix von Awir Leon, der um den titelgebenden Popsong Sunny kreist, verschiedene Beziehungskonstellationen erproben. Im Wechsel von festgelegten Bewegungseinheiten und Improvisationen nehmen die Tänzer Tuchfühlung auf, vereinen sich zu zweit oder zu dritt und lösen sich wieder voneinander. Auch in Figure a Sea, einer Choreografie der Tanzikone Deborah Hay für das Cullberg Ballett, werden Beziehungen verhandelt. Doch die Formationen der Tänzer, die von Laurie Andersons minimalistischen Klängen untermalt werden, sind weniger konkret, die Begegnungen nur flüchtig. Gegenüber Hays abstraktem, fast konturlosem Bewegungsfluss, der am Betrachter sanft vorbeizieht, fordert Meg Stuart ihrer Gruppe Damaged Goods totalen Körpereinsatz ab. In Until our hearts stop, einer Produktion, die die Amerikanerin 2015 für die Münchner Kammerspiele entwickelte, suchen sechs Darsteller nach Nähe. Stuart, die durch ihre Zusammenarbeit mit dem Theater Hebbel am Ufer in Berlin häufig präsent und gleich zweimal beim Festival vertreten ist – auch ihre frühere Arbeit Blessed isteingeladen – zeigt zunächst, wie sich drei Paare allmählich aneinander antasten, sich erst zart berühren, dann miteinander verschlingen. Nach und nach werden die Beziehungsangebote fordernder und sexuell eindeutiger. Sie kulminieren in einem sich zur Ekstase steigernden Duo zwischen zwei nackten Frauen, das aller Drastik zum Trotz spielerisch bleibt. Was als gruppendynamische Versuchsanordnung begonnen hat, weitet sich zur Interaktion mit dem Publikum und mündet nach fast zweieinhalb furiosen Stunden in einen Showdown, der alle erschöpft zurücklässt.

Kosmos der Gefühle

Eine besonders aparte Auseinandersetzung zum Thema zwischenmenschliche Beziehungen gelingt dem Kult-Kollektiv Peeping Tom bei seinem Berlindebüt. Das Stück 32 rue Vandenbranden, von Gabriela Carrizo und Franck Chartier entworfen, zeigt eine naturalistische Winterlandschaft von magischer Schönheit mit drei Wohnwagen, in denen sechs skurrile Personen in sozialer Isolation hausen. Sie loten die Verhältnisse untereinander aus und erleben einen Kosmos von Gefühlen, der sich in Machtspielen und abrupten Stimmungswechseln, die von Zärtlichkeit in Aggressivität umkippen, entlädt. In einer brillanten theatralischen Komposition aus tänzerischer Virtuosität, Akrobatik, Gesangseinlagen und teils witzig akzentuierten Sketchen legt das fabelhafte, sich schonungslos verausgabende Ensemble Emotionen, Ängste und Begierden frei. Und beschert den Besuchern damit einen wundersamen Abend von ganz eigentümlichem Reiz.

Foto © Mithkal Alzghair

Visuell starkes Tanztheater bietet das Düsseldorfer Ensemble Neuer Tanz in dem von VA Wölfl entwickelten Stück „von mit nach t: No 2“. Mysteriös wie der Titel ist diese Avantgarde-Show. Im Zentrum steht die nachgestellte Ermordung von Robert Kennedy, bei der die Mitwirkenden in weißen Ballkleidern auftreten – wie bei einer klassischen weißen Ballettszene. Drum herum organisiert Wölfl einen effektvoll-verrückten Bilderreigen, zwar ohne merklichen roten Faden, doch von großer Suggestion: Mikrofone werden in Brand gesetzt, eine Autohälfte an der Seitenwand nach oben gezogen. Man stellt sich zum Gesellschaftstanz auf oder exerziert im Stechschritt, in der einen Hand einen Revolver, in der anderen eine Bibel, jongliert mit Showelementen und Requisiten. Das Finale besteht aus einer gegen den Strich gebürsteten Applausordnung. Während der Verbeugung tritt ein Kunstwesen, halb Engel, halb japanische Mangafrau, auf und keucht endlos in ein Mikrofon. Exzentrik und Irritation bietet diese Revue und hohen Unterhaltungswert dazu.

Kunstform Tanz: Das sind nicht nur die großen kollektiven Formate, sondern auch die intimeren, die individuelle Erfahrungen mit gesellschaftlicher Relevanz in den Mittelpunkt stellen. Das Älterwerden gehört dazu. Bei Tänzern setzt es beruflich normalerweise schon ab Mitte 30 ein. Um zu beweisen, dass dem nicht so sein muss, präsentiert Tanz im August eine Garde Ballettsolisten jenseits der 40. Aus über 200 Bewerbern wurden sechs Tänzer für den auf zunächst zwei Jahre angelegten Aufbau eines Repertoires ausgewählt. Ganz neu ist dieses Vorhaben allerdings nicht, denn zwischen 1991 und 2006 verfügte das Nederlands Dans Theater mit dem NDT III über ein Ensemble für ausschließlich diese Generation. An das berühmte Vorbild knüpft das 2015 gegründete, von Christopher Roman, dem ehemaligen Ko-Direktor der Forsythe Company geleitete Dance on Ensemble an. Von den drei bisher entstandenen Werken sind zwei zu sehen. In Those specks of dust lässt die Choreografin Kat Válastur die Tänzer zurück auf ihre Anfänge blicken. Man wird Zeuge, wie sie ihre Berufung entdecken, sich mit dem Bewegungsradius des Körpers vertraut machen und ihn immer besser beherrschen. Bei den folgenden 7 Dialogues kooperiert jeder der Tänzer mit einem Künstler einer anderen Sparte. Doch die daraus entstandenen Soli, die Regisseur Matteo Fargion am Klavier selbst begleitet, fügen sich nicht zu einem überzeugenden Ganzen und zeigen nur ansatzweise, was in diesen Tänzern steckt. So ist William Forsythe gefragt, bei der nächsten Premiere der Gruppe im Oktober deren Potenzial stärker auszuschöpfen.

Alterswürde im Tanz

Wie man betagtere Tänzer würdig in Szene setzen kann, zeigen Eszter Salamon und Christophe Wavelet in Monument 0.1: Valda & Gus. Valda Setterfield und Gus Solomons Jr., Jahrgang 1934 und 1940, einst in der Merce Cunningham Company engagiert, bilden ihre Karrieren durch minimale Aktionen, erinnerungsträchtige Sprechszenen und behutsame Tanzsequenzen nach. Das Ergebnis ist eine feinsinnige, stille und gerade deswegen bewegende Hommage an zwei Künstlerpersönlichkeiten, die ungeachtet altersgemäßer Einschränkungen durch geistige Wachheit, Energie und Ausstrahlungskraft verführen. In einem der zauberischsten Momente des Abends zelebrieren die beiden Seite an Seite einen angedeuteten Stepptanz. Eine Reminiszenz an vergangene Zeiten und doch von lebensbejahender Vitalität.

Dem gängigen Bild einer Ballerina entspricht Claire Cunningham nicht. Die Choreografin ist körperlich beeinträchtigt und wegen einer Deformation auf Krücken angewiesen. Diese setzt sie in ihrem beeindruckenden Solo Give me a reason to live selbstbewusst nicht nur als Hilfs- sondern auch als Ausdrucksmittel ein. Angeregt durch mittelalterliche Krüppeldarstellungen von Hieronymus Bosch, hinterfragt sie Ausgrenzung, auch um auf von der Gesellschaft Benachteiligte aufmerksam zu machen. Vor einer Wand, die Begrenzung symbolisiert, wird ihre sehr persönliche Performance, die ihren körperlichen Möglichkeiten angepasst ist, zu einer Demonstration von Willensstärke und Gestaltungskraft. Zum Ende hin schaut Cunningham lange ins Publikum, so als wolle sie sagen: „Seht her, ein körperliches Handicap hindert nicht an Kreativität!“

Flüchtlingserfahrungen verarbeitet der syrische Choreograf Mitkal Alzhair in Displacement und steuert damit den politisch aktuellsten Beitrag bei, was vermutlich die Anwesenheit von Kulturstaatssekretär Tim Renner erklärt. Alzhair selbst kam noch vor dem Krieg nach Europa, zurückkehren konnte er jedoch nicht mehr.In der ersten Hälfte tritt er zunächst alleine auf und beginnt einen furiosen Folkloretanz, der in einen stampfenden Marsch übergeht. Die Hände, nun wie gefesselt hinter dem Rücken verschränkt, deuten Gefangenschaft an. Den Tanz führt er wie in Trance fort, bis zwei weitere Männer hinzukommen und sie zu dritt weitermachen. Als einer entkräftet zusammenfällt, geben ihm die beiden anderen in ihren Armen Halt: Eine berührende, menschliche Geste, die sich reihum wiederholt. Während Alzhairs Darbietung von archaischer Strenge geprägt ist, wütet Jaamil Olawale Kosoko in einer wilden Collage aus Rezitation, Gesang und herausfordernden Tänzen der Drag-Queen IMMA/MESS, die körperliche Unterwerfung und Laszivität zugleich ausdrückt, gegen Ungerechtigkeiten der Welt. Seine radikale Performance #negrophobia vereint persönlichen Schmerz über den gewaltsamen Tod des Bruders und Aufbegehren gegen Rassismus und Sexismus. Die eigene Betroffenheit des Künstlers ist jederzeit zu spüren, doch der permanente Einsatz verschiedener Medien mit TV-Einblendungen über Polizeiaktionen gegen Schwarze und das live abgefilmte, auf eine Leinwand projizierte Geschehen führt beim Betrachter zu einer nicht nachlassenden und deshalb erschöpfenden Reizüberflutung.

Dafür, dass Tanz ohne konzeptionellen Hintergrund nicht zu kurz kommt, sorgt Yoann Bourgeois und seine Kompanie CCN – Centre choréographique national de Grenoble – mit der spektakulären Show Celui qui tombe. Auf einer quadratischen Platte, die in alle Richtungen rotiert, in die Senkrechte kippt oder sich nach oben und unten hebt, vollführen sechs Performer ein bravouröses Spiel mit dem Gleichgewicht. Sie turnen halsbrecherisch, balancieren am Abgrund oder finden bei Frank Sinatras My Way zum zärtlichen Walzer zusammen. Manchmal löst sich ein Einzelner aus der Gruppe, dann wieder stemmen sich alle gegen den Fall aus großer Höhe. Dass am Ende das Kollektiv während der waghalsigen Aktionen auch noch einen sechsstimmigen Chorsatz absolut klangschön intoniert, ist die Krönung dieser verblüffenden Schau. Während bei Bourgeois eine Plattform die Bühne beherrscht, ist es bei Everyness, dem neuesten Stück des Duos Wang Ramirez, ein mondgleicher, mal aufgeblasener, mal luftloser Ballon, der die Tänzer bei ihrer träumerisch-sinnlichen Inszenierung begleitet. Honji Wang und Sébastien Ramirez, die sich vor zehn Jahren beim HipHop-Training in Berlin kennenlernten, international reüssierten, aber erst jetzt am Ort ihrer künstlerischen Anfänge debütierten, zeigen einen besonderen choreografischen Stilmix. Urbaner Tanz trifft auf modernes Ballett und Elemente aus dem asiatischen Kampfsport und verzaubert durch Poesie und Sinnlichkeit.

Tanz im August: In reinen Zahlen waren das 24 Künstler aus über 20 Nationen, 18 Produktionen, 8 Veranstaltungsorte bei einer Auslastung von etwa 95%. Hauptsächlich war es aber der geglückte Versuch, die momentane Unsicherheit und Zerrissenheit der Welt aus der tänzerischen Perspektive in vielen Facetten zu beleuchten. Dass das in zwangloser, nie elitärer Atmosphäre geschieht, zeichnet zudem dieses Publikumsfestival aus. Die fünf Partys, bei denen Profis und Gäste gemeinsam feiern konnten, sind Ausdruck dieser Offenheit.

Karin Coper