Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Barbara Frommann

Hintergründe

Unter dem Menetekel

Nicolas Méhuls Messe solennelle pour le sacre de Napoléon für Soli, Chor und Orchester und Sergei Prokofiews Kantate auf den 20. Jahrestag der Oktoberrevolution sind die Eckpfeiler einer ambitionierten Auseinandersetzung mit herausragenden gesellschaftlichen Umbrüchen der Neuzeit. Auf den Lorbeeren dieser musikalischen wie geistigen Anstrengung wird sich die Intendanz des Beethovenfestes freilich nicht ausruhen können.
Intendantin Nike Wagner - Foto © Monika Nonnenmacher

Auf der Bühne Les Siècles, das seit 2003 existierende Originalklang-Ensemble. Es rekrutiert sich aus herausragenden jungen Solisten, die in den besten französischen Ensembles mitspielen. Auf dem Dirigentenpodium Kölns Generalmusikdirektor François-Xavier Roth, der Begründer des Orchesters. Er arbeitet intensiv am Profil des Ensembles mit der großen musikalischen Spannweite vom Barock bis zur frühen Moderne. Roth genießt die Gelegenheit sichtlich, seine Musiker erstmals in Bonn präsentieren zu können, zumal beim Internationalen Beethovenfest. Neben Roth ein ebenfalls französisch geprägtes Solistenquartett, das mit hoher Intensität bei der Sache ist. Im Bühnenhintergrund der von Hervé Niquet einstudierte Vlaams Radio Koor, ein Qualitätssiegel der Kulturlandschaft Flandern. Im vielleicht zu zwei Dritteln belegten Saal der Beethovenhalle ein Publikum, das neugierig ist auf die Musik eines gewissen Étienne-Nicolas Méhul und das Hauptwerk des Konzertabends. Es ist die Messe solennelle pour le sacre de Napoléon für Soli, Chor und Orchester.

Méhul, Zeitgenosse Beethovens, ist den Opernspezialisten als Komponist von über 30 Werken für die Bühne bekannt. Darunter ist das 1795 im Kontext der politischen Umbrüche entstandene Le Chant du Départ. Dessen Text stammt übrigens von André Chénier, dessen Leben wiederum Umberto Giordano als Vorlage für seine bekannte Revolutionsoper diente. Die Aufführung der wahrscheinlich 1804 auf Napoleons Kaiserkrönung hin geschriebenen Messe hält, was sich der Festivalbesucher versprochen haben dürfte. Verblüffende Effekte in Méhuls Musiksprache und originelle instrumentale Einfälle im Umgang mit dem liturgischen Text beeindrucken. Die Messe entsteht zeitgleich mit Beethovens Komposition der Eroica, dem Schlüsselwerk des Beethovenfests 2016. Jene vielleicht noch von einer Aufführung in Bonn wenige Tage zuvor im Kopf, fühlt sich mancher so noch beseelte Zuhörer im Saal hineingewoben in einen eher säkularen, schwelgerischen Orchestersound. Roths Les Siècles legen ihn erhaben wie auch beschwingt an. In dieser Musik bricht stürmisch-bewegt die neue Zeit von gestern auf, wird schon die romantische Moderne der kommenden Jahrzehnte vorweggenommen. Eine Entdeckung, fürwahr.

Die zeitliche Nähe des Entstehens beider Kompositionen, jeweils mit Napoleon im Fokus, kommt dabei in einem verwandten musikalisch-philosophischen Unterfutter zum Ausdruck. Es werden die heroischen Dimensionen offenbar, die jeweils weit über das Werk hinausweisen. Wendet sich Beethoven mit dem Genius seiner dritten Sinfonie ab sofort „an die Menschheit“, wie Festspiel-Intendantin Nike Wagner sagt, leuchtet Méhul den imperialen Glanz einer Cäsarischen Herrscherfigur voll aus, ohne sie in jeder Faser seiner Partitur ernst zu nehmen. Diesen Ernst braucht das Unterfangen auch nicht unbedingt. Im Vorfeld der Aufführung tauchen Berichte auf, die die Urheberschaft Méhuls in Frage stellen und die Messe dem Komponisten Franz Xaver Kleinheinz zuschreiben, der in Wien zu Beethovens Entourage zählt. „Bislang“, fasst die Musikwissenschaftlerin Beate Angelika Kraus, Mitarbeiterin des Bonner Beethoven-Hauses, Forschungsergebnisse der letzten Jahre zusammen, „fehlt der Nachweis einer Autorschaft von Méhul.“ Spuren eines „Krimis“ wittert daraufhin die Lokalpresse.

Krimi um eine Messe

Ein Krimi um eine Messe wäre es in der Tat wert, weiter erzählt zu werden. Krimis generieren Tote, Revolutionen verlangen Opfer, häufig Tribute an die neue Zeit. Revolutionen lautet die künstlerische Devise des diesjährigen Beethovenfests. Dem folgt das Programm in zwei Schwerpunkten. Revolutionen bringen einerseits ihre eigene Musik hervor; man denke nur an die Marseillaise, die Internationale oder Va pensiero, den Gefangenenchor aus Nabucco. Musiker kreieren andererseits Revolutionen der Musik, besser: in der Musik. Hier kommen Richard Wagner oder die Neue Wiener Schule in den Blick. In Bonn selbstverständlich der Komponist des Fidelio, der exemplarischen Befreiungsoper. „Beethoven ist die Leitfigur“, lautet Nike Wagners Credo. „Die Musiken der Französischen Revolution haben sein Schaffen geprägt, von der Eroica bis zur Neunten.“ So ist denn über die vier Wochen des Festivals allerlei Heroisches zu vernehmen, in wiedergebenden Aufführungen, in umspielenden Neuschöpfungen, kreativen Modifikationen, etwa mit den Mitteln des Tanzes, selbst des Jazz.

Corinne Holtz - Foto © privat

Komplementär gibt es die Festival-Programmatik auch im Reflex auf die andere große Revolution in Europa, die russische. Sergei Prokofiews Kantate auf den 20. Jahrestag der Oktoberrevolution mit dem Ural Philharmonic Orchestra beansprucht hier den größten Raum. Und auch Roths Les Siècles steuern an einem weiteren Konzertabend mit Igor Strawinskis Le sacre du printemps ein furioses Beispiel revolutionärer Musik aus den Wurzeln slawischer Musikkulturen bei. Vor rund 100 Jahren verstört die Ballettmusik für Orchester das Pariser Establishment bei der Uraufführung in einer Weise, als wäre die Revolution der Guillotinen zurückgekehrt. Heute macht sie, grell und expressiv interpretiert, eindrücklich und zupackend erfahrbar, wie Revolutionen in der Musik solchen in der Gesellschaft vorausgreifen können.

„Sind Pussy Riot revolutionäre Kunst?“ „Braucht die Gesellschaft im revolutionären Prozess der totalen digitalen Erfassung und Speicherung aller Musik nicht auch restaurative Elemente?“ Mit solchen partiell erfrischenden Fragen spürt eine Gesprächsrunde von Experten am letzten Tag des Beethovenfests den Wechselwirkungen von Musik und Revolution nach. Wissenschaftliche Intensität und Akkuratesse treffen da recht willkommen mit dem Interesse derer zusammen, die sich eine Quintessenz dieser Begegnungen mit allerlei „Revolutionen“ wünschen, eine Metaerkenntnis über einzelne Konzerterlebnisse hinaus. Ein Rollenwechsel vom Zuhörer, wenn man so will, zum Denker, vielleicht Mitdenker. Auf dem Podium im Beethoven-Haus versammelt sind die Musikwissenschaftler Ulrich Mosch, Genf, Andreas Wehrmeyer aus Regensburg, ferner der Praktiker Stephan Aufenanger. Er unterrichtet am Landesmusikgymnasium in Karlsruhe, leitet Vokal- und Instrumentalensembles sowie konzertiert, so an der Orgel. Unter der kundigen Moderation von Corinne Holtz aus Bern, auch sie vom Fach, arbeitet sich die Runde daran ab, eben diese Metaerkenntnis herauszudestillieren und sprachlich festzuhalten.

Leider geht die durchaus gelingende Anstrengung ein Stück ins Leere. Auf gerade einmal jedem zehnten Platz des Kammermusiksaals findet sich ein Zuhörer. Das mag für einen Sonntagvormittag nach einem satten Festspielmonat nicht sonderlich dramatisch sein. Vor dem kulturpolitischen Hintergrund aller Hochkultur, der Klassikfestivals und des Bonner Events zumal, erscheint die gewisse Verlorenheit der Diskutanten doch als ein fatales Signal. Aufenanger wagt den Ausbruch aus dem Elfenbeinturm akademischer Glasperlenspiele, malt das Menetekel des möglichen Generationenabrisses an die Wand. „Niemand singt mehr“, gibt er zu bedenken und illustriert das mit einer kürzlich gemachten Erfahrung aus einer Grundschule. Von 30 Kindern einer Klasse hätten überhaupt nur noch zwei ein sehr bekanntes Weihnachtslied gekannt. Ist Singen der Anfang aller menschlichen Kultur und die Vermittlung des Singens in den Erziehungsinstanzen die Basis aller kulturellen Aneignung vom Concerto Grosso bis zur Mozart-Oper oder den Werken Max Regers, so ist die von Aufenanger aufgezeigte neue Ignoranz gleichbedeutend mit der künftigen Erosion so manchen Festivals, ob im Zeichen Beethovens, Händels oder Schuberts Liedkultur.

Zwischen Publikum und Masse

Über 25.000 verkaufte Karten und eine durchschnittliche Auslastung von etwa 70 Prozent vermeldet das Beethovenfest Bonn 2016 zum Abschluss. „Wir sind auf dem Weg“, resümiert Wagner die Festivalausgabe dieses Jahres, schon die Herausforderung „Beethoven 2020“ mit ins Kalkül nehmend. Dieser Weg verläuft derzeit konzeptionell zwischen den Polen elitär und populär, zwischen Publikum und Masse. Das Beethovenfest, sagt Wagner ferner, wolle Profil gewinnen. „Und da gibt es dann auch andere Gesichtspunkte als die Massentauglichkeit.“ Stimmt, in der Tat, Konzepte, Ideen, Innovationen, Kooperationen mit Schulen und vielen Bildungseinrichtungen gegen den Generationenabriss, soll das Menetekel der Marginalisierung eine Warnung bleiben, nicht Wirklichkeit werden.

Ralf Siepmann