Kulturmagazin mit Charakter
Hintergründe
Der Bogen des Festivals spannt weit: Von der selten gespielten Oper Imeneo über Musik für Könige oder ein Konzert zum Sonnenaufgang und das traditionelle Stiftungskonzert bis hin zu einer wachsenden Zahl von Cross-over-Veranstaltungen werden die Händel-Festspiele zunehmend ihrem Namen „international“ gerecht und bieten Theater- und Musikaufführungen auf hohem Niveau.
An zentraler Stelle des Programms, quasi als „Festspiel-Oper“ steht die Aufführung der späten, 1740 in London uraufgeführten Händel-Oper Imeneo. Es ist schon überraschend, wie sehr sich Georg Friedrich Händel während seiner Londoner Zeit mit dem dortigen höfischen Leben befasst, identifiziert und es zum Gegenstand vieler seiner Kompositionen gemacht hat. Er lebte auch nicht schlecht davon, bis ihm ausgerechnet auf seinem erfolgreichsten Geschäftsbereich „Oper“ mit einer Theaterneugründung ernsthafte Konkurrenz erwächst, der gegenüber er sich musikalisch zur Wehr setzen muss. Und so entsteht 1738/1739 seine späte Oper Imeneo, die er auch als „Operetta“ bezeichnet und 1740 mit mäßigem Erfolg vorstellt.
Schon nach dem ersten Akt denkt mancher Zuschauer „Die haben Sorgen …“, wenn sich allmählich abzeichnet, welche Wünsche in Tirintos Brust angesichts der schönen Rosmene schlummern, welche Pläne deren Vater mit seiner Tochter hat, um den mächtigen und wohlhabenden Imeneo umgarnen zu lassen, wie man wohl Clomiri, die Vertraute der Rosmene, versorgen kann …
Regisseurin Sigrid T´Hooft und Stephan Dietrich greifen für die Ausstattung voll in den barock-höfischen Fundus und sparen nicht mit herrlich schrillen Kostümen, die die Personen markant zeichnen. Barocke Kostüme, eine besonders ausgearbeitete historische Gestik und weiches Kerzenlicht auf der Bühne schaffen eine vertraute Atmosphäre und verlangsamen das Spieltempo. In dem romantisch leicht verkitschten Bühnenbild hat Dietrich Platz geschaffen für intime wie öffentliche Szenen, Tête-à-Têtes und reichlich Raum für die Tanzgruppe, die mit zeitgemäß unterhaltsamen wie bisweilen clownesken Einlagen für Unterhaltung sorgt. Höhepunkt dieser Tanzeinlagen: Das Seeräuber-Ballett mit herrlich überzogenen Kostümen. Vom silbrig-kühlen Tirinto über die rosenrote Rosmene bis zur teuflich-schwarz glitzernden Gott-Teufel-Figur des Totenrichters Rhadamanthys changieren die Protagonisten dieser höfisch-gelangweilten Welt. Mit lebhafter Gestik, Merkmal eines barocken Theaterstils, unterstützen die Charaktere eine eher dürftige Motivation und Handlung der Protagonisten. Gut dreieinhalb Stunden beschäftigen sie sich und die Zuschauer mit der Frage, wer nun mit wem und warum … Und jeder droht aus den unterschiedlichsten Gründen, dann doch „lieber sterben“ zu wollen – angesichts ihrer sehr irdischen Wünsche überraschend! Wenn sich Rosmene im dritten Akt endlich – nach vielen melodiereichen Arien – dazu entschließt, für sich die Frage zu beantworten, ob sie ihrer Liebe oder der väterlichen Vernunftforderung folgen soll, ahnt der aufmerksame Zuschauer, dass er auf das Ergebnis dieses romantisch-weiblichen Entschlusses vergeblich warten wird. Ob eher Tirinto oder doch besser Imeneo – Märchen, Romane und Barockopern brauchen auf eine Antwort nicht zu warten: Händel reicht die Frage an die Götterwelt weiter, Rosmene und die Zuschauer sind erleichtert. Und so schließt sich nach der Abwendung der Rosmene von ihrer Liebesverbindung zu Tirinto ganz langsam das Tor der Romantik, mit der Hinwendung zu Imeneo, der „vernünftigen“ Lösung klopft unüberhörbar der Rationalismus an die Tür der verspielten Welt dieses barocken Singspiels … eigentlich schade.
Das inzwischen internationale Festspiel-Orchester Göttingen mit Musikern aus acht Ländern, darunter Belgien, Groß-Britannien, Polen und Amerika stellt einen mit historischer Aufführungspraxis und den Händel-Kompositionen bestens vertrauten Klangkörper dar, der keine Wünsche offenlässt. Laurence Cummings, beinahe „Wahl-Göttinger“ nach vielen Festspiel-Auftritten, bietet die Gewähr für temporeiche und leichtfüßige Musik. In dem ausgezeichneten Solistenstab der Sängerinnen und Sänger überrascht der krankheitsbedingt einspringende Colin Balzer mit einer wunderbaren, festen, klangvollen Tenorpartie.
Ein bestens unterhaltenes, fröhlich lockeres Festspiel-Publikum bedankt sich mit minutenlangem, stürmischem Beifall für einen Opernabend, bei dem es den Sängern und dem Orchester durchaus gelingt, ein wenig dieser verspielten Londoner Singspiel-Welt nach Göttingen zu holen.
Händels Oratorium Messiah braucht heute kaum vorgestellt zu werden, es ist das weltweit bekannteste und am häufigsten gespielte Werk des Komponisten. Mit dem Wrocław Baroque Orchestra und dem NFM Choir wirken zwei etablierte und erfahrene Klangkörper am Festival mit und geben dem Programm eine zusätzliche internationale Note. Jarosław Thiel übernimmt in Vertretung als versierter Dirigent das Orchester, er liebt flotte Tempi und achtet sehr darauf, den Solisten vor dem Orchester genügend Raum zu lassen. Die Zuhörer des Messiah erleben eine intensive Interpretation, in der besonders zu Beginn des zweiten Teils dem Chor das Behold the Lamb of God ausdrucksstark gelingt. Doch Chor und Orchester haben genügend Dynamik, um den bekanntesten Schluss-Chor mit seinem vielfach erklingenden leuchtenden Hallelujah strahlen zu lassen – ein immer wieder bewegendes Finale.
In ihrem traditionellen Stiftungskonzert Bach begegnet Händel geben die Internationalen Händel-Festspiele jungen Künstlern die Gelegenheit, sich dem wohlinformierten Publikum der Stifter und Gönner zu präsentieren. So präsentiert die Camerata Bachiensis aus Leipzig, die 2015 den Publikumspreis der Festspiele mit nach Hause nehmen durfte, in diesem Jahr eine musikalische Begegnung, von der bis heute niemand weiß, ob es sie je gegeben hat. Noch ist sich die historische Musikwissenschaft uneins, ob sich Bach und Händel persönlich begegnet sind. Mit verschiedenen Sonaten und Suiten treffen diese beide Musikgiganten der Barockzeit musikalisch aufeinander, und die Solisten der Camerata Bachiensis überraschen die Zuhörer mit den unterschiedlichen Stilen und Klängen dieser beiden Musiker. Da trifft der formal strengere, kühlere Johann Sebastian Bach auf den weicheren, emotionaleren Händel, da stehen die Kantaten in ähnlicher Instrumentierung, bei Bach aber durch die leichtere Traversflöte gelockert, nebeneinander. Für heutige Ohren eher ungewohnt kühl klingt Händels Französische Suite g-Moll für Cembalo, die Julia Chmielewska-Ulbrich in bemerkenswerter Brillanz präsentiert.
Mit insgesamt über 70 Veranstaltungen in den Kategorien Oper, Konzert und cross-over-events und einem diesjährigen Gesamtbudget von rund anderthalb Millionen Euro haben Intendant Tobias Wolff und der künstlerische Leiter Laurence Cummings ein erstaunlich vielfältiges, breites Programm umgesetzt, dem man durchaus einen zweiten australischen Helpmann-Award zutraut, den sie schon im vergangenen Jahr in fünf Kategorien gewinnen konnten. Der Titel der diesjährigen Festspiele Verbindungen – connections lässt sich mehrfach lesen. Das Programm und seine Mitwirkenden zeigen, dass ein solches Programm nur mit genügend bewährten „Connections“ gelingen kann. Die zahlreichen neuen Ideen, Experimente und Formate, die die Göttinger sich selbst und den Zuhörern zumuten, bestätigen, dass auch die Orientierung an einer „historischen“ Aufführungspraxis keine Fessel für Kreativität und Originalität sein muss, so lange Qualität und Solidität eine stabile Basis bilden.
Während Tirinto die Ratschläge für den unglücklich Liebenden egoistisch für sich behält, weiß er sich doch mit Rosmene darin einig, „… es gibt keine Rose ohne Dornen …“ – eben.
Horst Dichanz