Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Die Außenwirkung der EU - Foto © Amio Cajander

Hintergründe

Angst vor der Chlor-Fledermaus

Die Nachrichtenlage ist unübersichtlich, ja widersprüchlich, die Gutachtenlage auch, der Vorhang wird nur vorsichtig und unter Druck gelüftet. Harte Informationen gibt es nur backstage und für wenige ausgewählte Personen, die Kulturszene fragt sich: Hat TTIP, haben die weitgehend geheimen Verhandlungen der EU mit den USA über ein transatlantisches Freihandelsabkommen etwas mit der Kultur zu tun, betreffen sie kulturelle Sachverhalte?
Foto © Jakob Huber/Campact

Seit Juli 2013 verhandeln die Europäische Union (EU) und die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) über das Freihandelsabkommen Transatlantic Trade and Investment Partnership, kurz TTIP. Im Kern geht es darum, die weltweit größte Handelszone mit den USA und Europa zu schaffen, in der Zölle gesenkt und andere Hemmnisse wie nationale Vorschriften abgebaut und private Investitionen vor staatlichen Interventionen geschützt werden sollen. Das soll die Wirtschaften diesseits und jenseits des Atlantiks stärken, neue Arbeitsplätze schaffen und die Preise senken – sagen die Pro-TTIP-ler. Alles Spekulationen und Schönrechnereien, Großkonzerne wollen ihre Interessen absichern, die Gefahren sind größer als mögliche Vorteile – sagen die Contra-TTIP-ler.

Zumindest darin sind sich fast alle einig: Als Bereich der Daseinsvorsorge ist die Kultur, sind Theater, Musik, Urheberrecht mindestens so betroffen wie der Verbraucherschutz oder Regeln für die landwirtschaftliche Produktion von Nahrungsmitteln. Könnte es bald die „Chlorhühnchen der Kultur“, die „Chlor-Fledermaus“ geben? Beruhigender Zuspruch der Kanzlerin wie des Wirtschaftsministers erweist sich als wirkungslos, die Lage hat sich keineswegs beruhigt. Eher ist das Gegenteil der Fall. Spätestens seit dem öffentlichen Protestmarsch gegen TTIP, zu dem im September vergangenen Jahres Gewerkschaften, Umweltorganisationen, Sozialverbände und Globalisierungskritiker in Berlin aufriefen und der zu aller Überraschung gut 150.000 Protestler auf die Straße brachte, hält die Kritik aus allen Bereichen der Kultur an. Kulturträger wehren sich gegen eine „grenzenlose Deregulierung“. Bereits mehr als 460.000 Menschen haben den Appell des Netzwerks der europäischen Bürgerbewegung Campact gegen das Abkommen unterschrieben. Der Deutsche Kulturrat fordert, dass der Kultur- und Mediensektor von den Vereinbarungen der TTIP ausgenommen wird. „TTIP bedroht real die europäische Kultur durch den Abbau von Handelshemmnissen“, sagt Olaf Zimmermann, Geschäftsführer von Campact.  Die gebührengesicherte ARD unterstützt diese Forderung, sie fürchtet um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und das Fernsehen. Der Deutsche Städtetag sorgt sich um die Freiheit von Kunst und Kultur. Wer die Kunst strengen Ziel- und Zwecksetzungen unterstellen will, „entzieht ihr die Grundlage“. Ende 2014 gelang es der Deutschen Unesco-Kommission, die Idee der deutschen Stadttheater und Orchester auf die Liste des immateriellen Kulturerbes zu bringen. Jetzt muss sie davor warnen, dass die dichte, traditionsreiche deutsche Theaterlandschaft, um die uns viele Nachbarländer beneiden, wegen ihrer öffentlichen Finanzierung den Intentionen des freien Marktes geopfert werden soll.

Beherzte Stellungnahmen ohne Wirkung
Monika Grütters, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien - Foto © Achim Melde

Wegen der wachsenden Befürchtungen und der zunehmenden Kritik sieht sich die Politik erstmals gezwungen, zu reagieren und öffentlich Stellung zu beziehen. Staatsministerin Monika Grütters erkennt, „dass gerade im Bereich von Kultur und Medien zwei grundsätzlich verschiedene Gesellschaftsmodelle aufeinander treffen“. Sie und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel lehnen deshalb alle Bestimmungen ab, „die geeignet sind, die kulturelle und mediale Vielfalt in Deutschland zu beeinträchtigen“. Sie wollen durch spezielle „Regulierungen“ sicher stellen, dass „die Vielfalt der Kultur und Sprache sowie die Medienvielfalt und -freiheit“ weiterhin gefördert und geschützt sind. „Der legislative Handlungsspielraum des deutschen und europäischen Gesetzgebers in diesem Bereich darf nicht durch ein Freihandelsabkommen eingeschränkt werden“, bekräftigen Grütters und Gabriel.

Von der Deutschen Orchestervereinigung über die Staatsministerin im Bundesbildungsministerium, den Deutschen Kulturrat, die Vereinigung der Theater bis hin zu Vertretern des Ortsvereins der SPD im verträumten Havixbeck in Westfalen schwingen alle die Protestfahnen, und die Liste der Protestler wächst weiter. Allerdings: Bis jetzt beruhen die Befürchtungen gegenüber und Warnungen vor TTIP auf der Annahme, die Grundidee des Freihandels durch TTIP könne dazu führen, die öffentliche finanzielle Unterstützung deutscher Kulturträger, etwa der Stadttheater und -bibliotheken zu gefährden. Die derzeitige öffentliche Förderung könnte amerikanischen Anbietern (und Kulturproduzenten) den Zugang zum deutschen Markt erschweren, weil sie aus Sicht der Freihandelsvertreter den freien Markt gefährden. Hinzu kommt die vielfach heftig umstrittene Funktion der freien Schiedsgerichte, über die Produzenten für den freien Markt, die sich durch öffentliche Maßnahmen wie Zuschüsse benachteiligt fühlen, gegenüber den Verursachern Schadenersatz einklagen können. Ein denkbares Beispiel aus der Kultur: Der amerikanische Produzent des fiktiven Musicals Die toten Bettler von Las Vegas kommt in die Stadt X und hat für fünf Aufführungen Gewinnerwartungen von insgesamt 15.000 Euro. Gleichzeitig kommt das Stadttheater X mit der Eigenproduktion eines Musicals heraus und wird zur Konkurrenz, die potenziellen Zuschauer teilen sich zwischen beiden Aufführungen. Die Einnahmen für die amerikanische Produktion bleiben um etwa die Hälfte hinter den Kalkulationen zurück. – Dann könnte der amerikanische Produzent den deutschen Veranstalter wegen Verstoßes gegen das TTIP verklagen und von der Stadt Schadenersatz verlangen, den ihm die Schiedsstelle dann wohl zusprechen müsste. So weit, so schwarz die Fantasien der kreativen Kulturschaffenden. Ob derartige Fantasien berechtigt, realistisch sind oder nicht, weiß keiner.

Die große Geheimniskrämerei um die Verhandlungen und ihre Inhalte beflügelt die Fantasien und Schwarzmalereien der Kulturschaffenden. Zwar sind inzwischen zahlreiche Einzelheiten der Verhandlungen durchgesickert, die vom Generalsekretariat des Rates der EU als RESTREINT EU/EU RESTRICTED (Begrenzter Zugang)  eingestuft werden, aber selbst Justizminister Heiko Maas muss eingestehen: „Niemand weiß, welche Geschäftsmodelle es in Zukunft geben wird.“ Vieles wird sich erst in konkreten Verhandlungen entscheiden.

Zahlreiche Abgeordnete, die dem Vertrag in Kürze zustimmen sollen, empfinden sich als blinde Fahrer im Nebel. Da wirkt eine so klare Position wie die des Bundestagspräsidenten und streitbaren Demokraten Norbert Lammert erfrischend, wenn er fordert, die relevanten Verhandlungsdokumente müssten „allen Mitgliedstaaten der EU und dort neben den Regierungen auch den Parlamenten zugänglich sein … Und ich werde darauf bestehen.“ Daneben klingt das Versprechen des SPD-Partei-Vize Ralf Stegner auf dem Parteitag im vergangenen Jahr in Berlin eher schlapp und wenig überzeugend: „Wir stimmen nur zu, wenn TTIP und CETA das Leben der Menschen verbessern“. Die Kunstszene wartet auf die Konkretisierung der Zusagen von Gabriel und Grütters, die die Beruhigungspille „Ausnahmen für den Bereich Kultur und Medien“ inklusive der  deutschen Theaterstruktur verteilen. Da aber eine EU-Kommission für alle Mitgliedsstaaten verhandelt, weiß niemand genau, ob dabei die deutsche Position berücksichtigt wird.

Hans-Jürgen Blinn, rheinland-pfälzischer Ministerialrat und Beauftragter des Bundesrates im Handelspolitischen Ausschuss des Europäischen Rates, ein eher umsichtiger Mann, nennt sich selbst inzwischen einen „Wutbeamten“. Blinn: „Ich habe noch nie so geheime Verhandlungen erlebt“, gibt er zu und beschwert sich: „Wir reden von Verfassungsorganen, wir reden von politisch verantwortlichen Institutionen, die nicht wissen, über was die Kommission und die Amerikaner im Moment verhandeln.“  Auch die ähnlich angelegten CETA-Verhandlungen mit Kanada sieht er sehr skeptisch und kommentiert die Stellungnahme der Bundesregierung: „Die Wahrheit ist leider, dass eine massive Bedrohung der bisherigen Kulturförderung in Deutschland von CETA ausgeht.“ Er sieht sich mehrfach zu der Forderung veranlasst, mehr Transparenz und genauere Erklärungen seien bei CETA und TTIP „dringend erforderlich“. Schließlich sprechen sich beachtliche 60 Prozent der Informierten nach einer Allensbach-Umfrage gegen TTIP und CETA aus.

Kein Sturm im Wasserglas
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz - Foto © privat

Erst allmählich beginnt die Politik wahrzunehmen, dass der Anti-TTIP-Protest mehr ist als ein Sturm im Wasserglas. Es muss schon Gründe dafür geben, dass Bundesjustizminister Maas in einem aktuellen Interview zu möglichen Änderungen im Urheberrecht betont: „Damit Deutschland eine Kulturnation bleibt, dürfen wir Kunst, Literatur oder Musik nicht einfach als gewöhnliche Waren oder Dienstleistungen betrachten“, und unterstreicht, „die Kreativwirtschaft ist für uns besonders schützenswert.“  Deshalb versichert er, „dass für uns der kulturelle Bereich bei TTIP nicht zur Disposition steht.“

Die EU-Kommissarin Cecilia Mälmström gibt sich von diesem Anti-TTIP-Getöse der Kulturszene überrascht, sie wundert sich über das „generelle Maß der Ablehnung von TTIP in Deutschland“. Fast beschwörend versichert sie: „TTIP ist keine Verschwörung gegen die Menschheit.“ Die Befürchtung, die EU würde in den Verhandlungen „die europäischen Werte verkaufen“, hält sie für „völligen Unsinn“. Was denn nun? Die Kulturszene, alles Neurotiker?

Zu wenig wird in der Kritik und den Diskussionen klar, dass hinter TTIP handfeste, weitreichende weltpolitische Überlegungen und Interessen stehen. Ausgerechnet dem Gewerkschaftstag der IG Metall in Frankfurt versucht Bundeskanzlerin Angela Merkel klar zu machen, bei TTIP gehe es um eine „vernünftige Gestaltung der Globalisierung“. Wirtschaft und Außenpolitik befürchten, dass Europa sonst seinen Einfluss bei der Regulierung des Welthandels einbüßen könnte. „Letztlich geht es bei den Freihandelsabkommen um die Regeln der Globalisierung“, sagt die Kanzlerin.

Dabei wird von den Globalisierungsökonomen gern übersehen oder verschwiegen, dass Kultur, Kreativität, Qualität und Nachhaltigkeit wesentliche Elemente des Welthandels sind. Die Versprechen von Malmström wirken wie bestellter Hohn, wenn ausgerechnet im Rahmen des Deutsch-Französischen Wirtschaftspreises deutsche und französische Vertreter der Wirtschaft übereinstimmend betonen, „Europa ist mehr als ein Wirtschaftsraum. Die kulturellen Werte sind ein Zeichen unserer Identität“. Ob das die Trans-Atlantiker wissen?

Ob und wie Kulturvertreter diese Werte in den Verhandlungen durchsetzen wollen, ist noch mehr als rätselhaft. Mit der Übertragung der Freihandels-Verhandlungen auf die EU haben die Einzelstaaten nationale Rechte nach Brüssel abgegeben, und Malmström kann unterstreichen, dass nach Vertragsabschluss „die nationalen Parlamente keine Änderungen mehr verlangen können“. Zwar steht der Abschluss noch bevor, doch nach Malmström sind von 100 Metern der Verhandlungsstrecke 60 bereits geschafft. „Ich warne ausdrücklich vor einem Scheitern von TTIP“, lautet ihr Credo.

Gegen eine offene Konkurrenz zwischen amerikanischen und europäischen Kulturproduktionen ist wenig einzuwenden, weil wir in Europa gern darauf vertrauen, dass sich Qualität durchsetzt. Doch die Erfahrungen mit amerikanischen Film- und TV-Produktionen, das Geschäftsgebaren von Amazon und Google demonstrieren zu offenkundig, dass amerikanische Firmen bedenkenlos ihre wirtschaftliche Macht einsetzen, wenn es um marktbeherrschende Einflüsse geht.  Das Credo, das liberal-offene Glaubensbekenntnis der Freihandelsvertreter ist die These: Je freier Waren, Kapital und Dienstleistungen zwischen Ländern fließen, desto größer ist der Wohlstandseffekt für alle Beteiligten. Hieraus und aus den unterstellten Zusatzgewinnen speist sich die TTIP-Begeisterung bei der Mehrheit der deutschen Unternehmen.

Selbst wenn man die vorhandenen Bedenken von Wirtschaftsinstituten unbeachtet lässt, bleibt die grundsätzliche Frage, ob wir, ob Europa bereit ist, seine Kultur den Marktgesetzen auszusetzen, ob es die Durchökonomisierung ihrer Stadt- und Landestheater, der philharmonischen Orchester, kurz, aller Bereiche der Gesellschaft will. Die Sparmaßnahmen mehrerer Bundesländer in den letzten Jahren zeigen deutlich, wohin der weitgehende Verzicht auf öffentliche Förderung von Kulturinstitutionen führt.

Udo Di Fabio, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, schaut äußerst kritisch auf die Rolle der Politik bei TTIP und spricht vom „Fehlverständnis politischen Handelns in Bezug auf Wirtschaft und Gesellschaft“. Ohne die kreative Einmischung der Politik werde es der Gesellschaft nicht gelingen, „ihre normative Identität“ zu finden. Das gilt angesichts des Stellenwertes der Kultur bei TTIP ganz ausdrücklich auch für den Sektor Kunst und Kultur. Damit kann und darf sich kein Kulturschaffender abfinden. Man muss kein Verfechter einer deutschen „Leitkultur“ sein, wenn man eine Umwandlung unserer reichhaltigen Kulturlandschaft in ein Handelsgut verhindern möchte. Das sollte Grund genug sein für eine weiterhin kämpferische Aufmerksamkeit aller Kulturschaffenden gegenüber TTIP.

Horst Dichanz