Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Pavillon im Kurpark von Bad Wildbad- Foto © Ingrid Smolarz

Hintergründe

In der Champions League

Rossini in Wildbad: Das Spektakel alljährlich im Nordschwarzwald präsentiert Opern Rossinis auch jenseits der Blockbuster und vermittelt systematisch Werke der Peripherie des Genies von Pesaro in exemplarischen Aufführungen. Das Konzept ist erfolgreich und Garant eines originäres Festivalprofils.
Probenfoto Le Comte Ory - Foto © Paul Secchi

Gioachino  Rossini nimmt im Sommer 1856, von Straßburg anreisend, Bäder in Bad Wildbad. So ist es in der anerkannten Rossini-Biographie von Richard Osborne vermerkt. Und selbstredend auch in der Chronik des Städtchens im Nordschwarzwald. Erquickt reist der von ganz Europa bewunderte Opernkomponist nach einigen Wochen weiter durch deutsche Lande. So nach Kissingen, wo er vom bayerischen König Max II. Joseph empfangen wird. Im Leben des Belcanto-Genies und Liebhabers der italienischen und französischen Küche ist die Erholung in dem beschaulichen Heilbad an der Enz kaum mehr als eine Episode. Für das gerade einmal 11.000 Einwohner zählende Wildbad hingegen ist sie bis heute lebendig. Viel mehr noch. In Gestalt des Festivals Rossini in Wildbad wirkt sie als eine Art posthumes Geschenk des Komponisten weiter, zum Segen der Gemeinde und ihrer Tourismuswirtschaft, als von Jahr zu Jahr wachsender Magnet für Belcanto-Anhänger aus ganz Deutschland und benachbarten Ländern wie Frankreich, Schweiz und den Niederlanden.

Breiteres Spektrum als Pesaro

160 Jahre nach der Abreise des „Schwans von Pesaro“ aus dem ersten Hotel am Platze markiert die gerade zu Ende gegangene Spielzeit eine positive Zäsur. Das einzige deutsche Rossini-Festival nach dem Ende des Festspiels in Puttbus auf Rügen vor einigen Jahren besteht nunmehr in seiner jetzigen Form ein Vierteljahrhundert. Nichts weniger als ein kleines Wunder. „Wir sind in gewisser Weise“, sagt der im Herbst 1991 zum Leiter des Festivals berufene Intendant Jochen Schönleber, „der Provinzclub, der in der Champions League spielt.“ Sucht man den Schlüssel dieses Aufstiegs, lässt er sich unweigerlich in der Position und dem Engagement des aus Tübingen stammenden Regisseurs finden. Der mit seinem Konzept, auch den Werken Rossinis jenseits der Blockbuster wie La Cenerentola eine Chance zu geben und die Vermittlung der Zeitgenossen und Wegbegleiter Rossinis in exemplarischen Aufführungen systematisch anzugehen, dem Festival ein originäres und weit beachtetes Profil erschlossen hat. Nicht einmal das Spektakel in Pesaro, „das in einer ganz anderen Liga spielt“, sagt Schönleber, erreicht angesichts seines klassischen Fokus auf die Hauptwerke Rossinis ein solch breites Spektrum.

22. Juli, Trinkhalle Wildbad. Luciano Acocella macht mit den glänzend disponierten Virtuosi Brunenses, dem sich steigernden Camerata-Bach-Chor Poznan und einem prächtig aufgelegten Sängerensemble aus der Aufführung von Le Comte Ory, Rossinis letzter Buffa für Paris 1828, ein veritables Belcanto-Vergnügen. In der halbszenischen Realisierung des Stoffes von Eugène Scribe durch Nicola Berloffa können sich insbesondere der rumänische Tenor Gheorghe Vlad in der Titelrolle und als Comtessa Adèle die spanische Sopranistin Sara Blanch, Stipendiatin der Wildbader Akademie BelCanto, geradezu nach Herzenslust austoben. Vlad, den Hamburger Opernbesucher als Dimsdale in Fredric Krolls Oper Der scharlachrote Buchstabe von 2014 in Erinnerung haben dürften, erobert das Publikum mit subtilem Rossini-Timbre. Blanch verzückt mit großartiger Stimmvirtuosität, die im mühelosen Erreichen des dreigestrichenen F gipfelt. „C’est charmant, c’est divin“, heißt es einmal im Libretto. Fürwahr, den göttlich-charmanten musikalischen Spaß goutiert das Auditorium mit Begeisterung und Jubel. „Ein wunderbares Casting“, schwärmt ein extra aus den Niederlanden angereister Belcanto-Fan, gefragt nach dem Grund seiner Faszination für die Aufführung.

Mischung ist das Kernprofil.

Le Comte Ory 2016 – den Buffo-Zweiakter weist die Wildbad-Chronik bereits für 2002 in einer gelungenen, auf CD erhaltenen Produktion aus – ist eine von fünf Opern, die Schönleber mit seinem Team in der Jubiläumsspielzeit auf die Bühne bringt. Mehr als 7000 Besucher werden innerhalb von zweieinhalb Wochen bei mehr als 20 Konzerten und Opernaufführungen registriert. Die Werke des Schöpfers des Barbier von Sevilla und weiterer rund 40 Opern stehen zwar im Vordergrund. Diesmal sind es neben Le Comte Ory sein Erstling Demetrio E Polibio und der für das San-Carlo-Theater Venedig Weihnachten 1814 geschriebene Sigismondo. Die höchst bemerkenswerte Rossini-Peripherie markieren Giuseppe Balduccis Il Conte di Marcisio und mit Bianca e Gernando erstmals eine Bellini-Trouvaille. „Für uns“, betont Schönleber, „ist die praktizierte Mischung das Kernprofil.“ Produktionen, die es via Wildbad aus dem Schatten oder gar dem Vergessen ins heutige Belcanto-Bewusstsein geschafft haben, unterstreichen das Credo des Intendanten. Beispielhaft zu nennen wären Saverio Mercadantes I Briganti von 2012, die Schiller-Oper La sposa di Messina von Nicola Vaccai aus dem Jahr 2009 und Adelina von Pietro Generali, 2010 aufgeführt. Nicht zuletzt Peter Joseph von Lindpaintners Il Vespro Siciliano aus dem vergangenen Jahr.

Die meisten Produktionen des Festivals sind in der über zwei Jahrzehnte umfassenden Medienhistorie von Wildbad beim Klassiklabel Naxos erschienen, etliche in Kooperation mit dem Landessender der ARD, dem SWR. Die Zusammenarbeit ist in doppelter Hinsicht ein Erfolgsfaktor. Einmal gewinnen die künstlerischen Leistungen an der Enz eine dauerhafte, weitreichende Publizität, speziell unter den Rossini-Connaisseurs. Viele Kenner seien „im Besitz unserer Mitschnitte“, weiß der Intendant, „ohne jemals hier gewesen zu sein.“ Zum anderen erklärt die Kooperation ein Stück weit das Wildbader Mysterium, mit kleinem Geld große Kunst zu machen. „Bei uns“, erläutert Schönleber, „singen die Sänger nicht primär für Geld, sondern für ‚Silbertaler’, also CDs“. Was im Klartext heißt: Der Personaletat von Rossini in Wildbad, das sich gern als „Festival aus der Portokasse“ apostrophieren lässt, ist von einer Größe, die den Begriff kaum verdient. Orchester und Chöre  aus Mittel- und Osteuropa sind schon eh und je Partner Schönlebers und Säulen des Festivalbetriebs. Sie nehmen auch einfache Konditionen in Kauf. Die Sängerinnen und Sänger, auch die schon einige Grade arrivierten, sehen in Wildbad ein Sprungbrett für eine Belcanto-Karriere. Andere arbeiten in Workshops der Akademie BelCanto an ihrem professionellen Feintuning, etwa in Meisterkursen mit Raùl Giminez, und fundieren ihr Können in ergänzenden Auftritten.

Verbesserte Infrastruktur

Die Bilanz des aktuellen Festivals, auch die der letzten Jahre, kann sich mehr als sehen lassen, nicht nur in künstlerischer Hinsicht. Das von der Stadt Bad Wildbad, dem Landkreis Calw und dem Land Baden-Württemberg getragenen Festival verfügt mittlerweile über eine deutlich verbesserte Infrastruktur. Die Trinkhalle, die Hauptspielstätte, ist im Komfort für das Publikum und im Erscheinungsbild nach und nach deutlich verbessert worden. Als „entscheidenden Kick für das Festival“ wertet Schönleber die Wiedereröffnung des historischen Kurtheaters im Jahr 2005: „Das Kurtheater ist ein Juwel.“ Das atmosphärisch sehr intime Haus verkaufe sich besonders gut. 2016 ist zudem die Perlenkette der traditionellen Spielstätten auf originelle Weise erweitert worden. Als naturnaher weiterer „Konzertsaal“ zieht der hölzerne Turm des Baumwipfelpfades ein spezielles Publikum an.

So positiv die Gesamtbilanz, so perspektivisch die Zukunft – Rossini in Wildbad unter dem ewigen  „Damoklesschwert“ einer auf extreme Kante genähten Wirtschaftlichkeit steht ohne  belastungsfähige Bestands- und Entwicklungsgarantie da. „Mit sieben Großprojekten, darunter fünf Opern“, lautet die ungeschminkte Einschätzung des Intendanten, „erreichen wir die Grenzen, die knappes Personal, knapper Etat und die begrenzte Besucherkapazität uns setzen.“ Finanzielle Reserven beim Ticketverkauf sind keine Größe, auf die das Management bauen könnte. Wo sonst – ausgenommen vielleicht das Schleswig-Holstein-Musikfestival – werden mehr als 50 Prozent der Einnahmen aus dem Absatz von Eintrittskarten erzielt? Das Land hat zwar in den vergangenen Jahren mehrfach seine Zuschüsse zum Festivaletat erhöht. Das Engagement von privaten Förderern hingegen bleibt überschaubar. 2010 zog sich die Peter-Moores-Foundation, langjähriger Sponsor des Spektakels, aus dem Förderkreis zurück, vorerst jedenfalls. Neue Mäzene sind nicht über Nacht zu finden, zumal nicht im Umfeld der Kleinstadt im tiefen Enztal.

Spekulationen, er trage sich mit Rückzugsgedanken, weist der Festival-Intendant indes zurück.  „Es gibt noch so viele Träume, für die es allemal lohnt zu bleiben.“ Schönleber spricht von der Suche nach Entdeckungen und Innovationen gemeinsam mit seinem Mitstreiter Reto Müller, vor seiner Rossini-Mission übrigens beruflich bei den Schweizerischen Bundesbahnen tätig. Er nennt zudem das „begeisterungsfähige Publikum“ als Motivationsschub. Was er nicht nennt, ist freilich evident. Wo schon spielt ein Festival, das es wirtschaftlich so eigentlich nicht geben dürfte, in der höchsten Klasse. In der Champions League eben.

Ralf Siepmann