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Kulturmagazin mit Charakter

Aribert Reimann bei den offenen Proben mit Kimberley Boettger-Soller - Foto © Mozartfest Würzburg

Hintergründe

Das Kunstlied einst und heute

Das Mozart-Labor beim diesjährigen Würzburger Mozartfest versammelt Komponisten, Wissenschaftler, Musiker, Studierende und Interessierte im Kloster Himmelspforten und im Fürstensaal der Residenz, um über die Zukunft des Kunstlieds praktisch und theoretisch nachzudenken, wird es doch vielfach als aussterbende Spezies betrachtet.
Einführungsvortrag von Wolfgang Riedel - Foto © Mozartfest Würzburg

Das Kunstlied lebt weiter“, so positiv schätzt der 80-jährige Komponist Aribert Reimann bei der gut besuchten Tagung Mozarts Europa im Exerzitienhaus Himmelspforten der Diözese Würzburg die Zukunft dieser Musikgattung ein; unterstützt wird er in seiner Meinung von dem 24-jährigen Pianisten und Komponisten Kit Armstrong, „Artiste étoile“ des Mozartfestes, sowie von Mozartforscher Ulrich Konrad aus Würzburg und von Axel Bauni aus Berlin und einer ganzen Reihe junger Studierender aus dessen Interpretationsklasse, die bei einem außergewöhnlichen Konzert mit zeitgenössischen Liedern, zwischen die immer wieder neckisch Mozartlieder eingestreut sind, dem Ganzen eine hörbare Basis verleihen. Den philologischen Hintergrund für die Podiumsgespräche liefert der Literaturwissenschaftler Wolfgang Riedel aus Würzburg.

Auch wenn Liederabende meist nur von einem speziellen Publikum besucht werden, es gibt heute immer mehr junge Interpreten und Komponisten für Lyrikvertonungen. Das lässt hoffen. Ursprünglich, in der Antike, wurden Gedichte meist zur Lyra, also musikalisch, vorgetragen, woher der Begriff Lyrik sich auch herleitet. Heute sind Produkte der Poesie meist von Reflexion geprägte Gedankenlyrik.

Im 18. Jahrhundert, zu Mozarts Zeiten, war das anders. Da standen Gefühle im Vordergrund. Und Musik dazu unterstrich solche Stimmungsgehalte. Zwar gibt es die These, merkt Konrad schmunzelnd an, dass das eigentliche Kunstlied erst mit Schuberts Gretchen am Spinnrad 1814 begonnen habe; von dort sei es als Salonkunst schnell in private, „gehobene“ bürgerliche Zirkel eingewandert und habe sich so verbreitet. Doch, wie Armstrong sofort einwirft, schon in der Renaissance habe es autonome Musik gegeben, bei der die Singstimme mit dem Text ein bestimmender Teil des Ganzen gewesen sei. Und gegen ein Vorurteil wehrt er sich energisch: „Das Klavier ist bei einer Liedkomposition keineswegs ‚nur‘ ein Begleiter.“ Meist werde es auf diese Weise der Singstimme untergeordnet; ein guter Pianist habe vielmehr gerade bei Liedvertonungen eine sehr komplexe Rolle und vielfältige Aufgaben, angefangen von der Einstudierung mit dem Sänger über die jeweils interpretierende Illustration bis hin zu individuellem Tempo und Färbung. An Weiteres erinnert Armstrong: Viele der Gedichte hätten ohne eine Vertonung den Zeitgeschmack ihrer Entstehung nicht überlebt. Sie wirken heute banal, oft sogar kitschig, und manche Anspielungen verstehen wir einfach nicht mehr.

Gerade bei den 30 bis 40 Liedern Mozarts ist das zu beobachten. Wolfgang Riedel legt in seinem Einführungsvortrag dar, dass Mozart äußerst konventionelle Vorlagen von zweifelhaftem literarischen Wert und oft „abgedroschener Empfindsamkeit“ mit Themen wie „Einsamkeit“, was der damaligen „Mode“ der Nachtgedanken und der Melancholie angesichts des Grabes entsprach, oder von Liebe mit der Anbetung der Geliebten als Heiliger und dem Kuss als Sakrament vertonte.  Ähnliches zeige auch das Lied der Trennung mit der Androhung schauerlicher Konsequenzen. An Chloe habe wie so oft die Besitz ergreifende Liebe zum Gegenstand. Das beliebte anakreontische Rollengedicht Goethes Das Veilchen – Gegenstück zum Heidenröslein – wird meist von einer Sängerin vorgetragen, gemeint aber ist ein Mann als bescheidenes Blümlein, das von einer hartherzigen Schäferin achtlos zertreten wird. Da könnte oder sollte heutzutage beim Vortrag schon eine gewisse Portion Ironie mitschwingen. Eines steht aber fest: Gute Kunstlieder sind nicht unbedingt vom Text abhängig; schwächere Texte gewinnen erst durch die Komposition. Als Beispiel wird auch Brahms angeführt.
Beim Podiumsgespräch unter den Experten wird deutlich: Durch die Musik entstehen Stimmungen im Kopf, ein neuer Raum; auch Wiederholungen, bei Dichtung oft ein Fehler, erschließen im Lied unterschiedliche, weitergehende Bedeutung, verstärken die Aussage. Reimann ist zudem der Auffassung, Wörter seien im Gedicht eine Hülle, „in die Musik hineingeblasen wird“. Zu manchen Gedichten allerdings höre er nichts, so bei Goethes in sich abgeschlossenen Gedichten; dazu falle ihm nichts ein. Insgesamt solle der Text aber etwas auslösen, wobei unwichtig ist, aus welcher Zeit er stammt. Dagegen kann dasselbe Wort in verschiedenen Sprachen eine jeweils andere Reaktion beim Komponisten hervorrufen. Dabei ist auch nicht ganz unwichtig, in welcher Stimmlage gesungen wird; so ist etwa bei der Dichterliebe der Tenor näher an einer ironischen Interpretation als der schwerere Bariton. Ein Problem ist bei „Klassikern“ des tradierten Liedes wie etwa solchen von Schubert die vermeintliche „Zeitlosigkeit“ – so als ob ein heutiger Hörer dasselbe empfände wie zu Zeiten Schuberts.

Deshalb bricht auch Bauni eine Lanze für das zeitgenössische Kunstlied, das allerdings vom Hörer verstärkte Aufmerksamkeit erfordert. Junge Interpreten begeistern sich mehr und mehr für das stilistisch sehr reiche Kunstlied des 20./21. Jahrhunderts, wie beim äußerst anspruchsvollen Konzert Auf Mozarts Spuren in Kloster Himmelspforten zu hören ist; diese modernen Kompositionen verlangen jedoch von den Pianisten sowie den Sängern und Sängerinnen eine Extra-Portion an besonderer technischer Versiertheit. Eines aber steht fest, betont Bauni: Wünschenswert ist auf jeden Fall, vermehrt jungen Komponisten dafür Aufträge zu erteilen.

Lieder von Mozart über Mendelssohn bis Reimann und Armstrong

Genau das findet nun statt beim Mozartfest, denn Kit Armstrong ersann sich für vier bekannte Mozartlieder „neue“ Vertonungen, so dass bei einem ausverkauften und lange bejubelten Stipendiatenkonzert des Mozart-Labors in der Residenz die Originalkomposition Mozarts und das neue tonale Gewand derselben Gedichte zu vergleichen sind. Ähnliches geschieht auch bei Acht Liedern auf Texte von Heinrich Heine, vertont von Felix Mendelssohn Bartholdy. Zuerst erklingen sie in seiner Version, angeführt von dem wunderbaren Gruß op. 19 a Nr. 5 mit den Anfangsworten „Leise zieht durch mein Gemüt Liebliches Geläute …“, sozusagen als Einstimmung in die Materie, interpretiert inspirierend am Klavier von der sehr differenziert und sicher gestaltenden Pianistin Melissa Gore und gesungen von dem klaren, großen, mit glänzenden Höhen prunkenden Mezzosopran von Kimberley Boettger-Soller.

Dann folgt die 1996 entstandene Version derselben Gedichte von Aribert Reimann, auf der Klang-Basis des ausgezeichneten Mucha-Quartetts aus Bratislava, bei dem besonders das Cello heraussticht; die vier Streicher schieben nun sechs Intermezzi zwischen einzelne Lieder ein, einmal wie ein unüberwindlicher Gegensatz zu den meist träumerischen oder sehnsuchtsvollen Liedern, sich verdichtende negative Ahnungen mit harschen Geräuschen oder rauen Reibungen,  auch unwirkliche, geheimnisvolle Visionen etwa mit hohem, sirrendem Flageolett. Die Griechin Danae Kontora singt die Texte mit hellem, elanvollem Koloratursopran. Diese ausgewählten Lieder spiegeln in der modernen Version eine innere Zerrissenheit, wie sie zu Mendelssohns Zeiten wohl nicht spürbar war.

Auch Mozarts Lieder werden zuerst in der „normalen“ Fassung gegeben. Den Klavierpart übernimmt Kit Armstrong, und die polnische Sängerin Martyna Cymerman lässt dazu ihren starken, brillanten Sopran vor allem in den Höhen nachdrücklich erstrahlen. Sehr expressiv dann die Uraufführung von Kit Armstrongs Version der vier Lieder, die auch Mozart vertont hatte. Madarys Morgan aus Kuba zeigt am Klavier Außerordentliches in Tempo, Technik und Ausdrucksreichtum, so etwa Heftiges, fein Fantasierendes oder Verspieltes; Maria Isabel Segarra aus Spanien gestaltet mit ihrem leicht metallisch unterlegten Sopran die verschiedensten Stimmungen von träumerisch bis aufbegehrend. Der Abschluss des Abends ist wieder Mozart gewidmet; das weibliche Darian-Trio aus Wien gefällt hier sehr durch seine warme, fein abgestufte Tongebung im Divertimento Es-Dur KV 563.    

Eine Liedmatinee der Extraklasse

Die absolute Krönung zum Thema „Das Lied von Mozart bis heute“ aber erleben die begeisterten Zuhörer in einer ausverkauften Matinee im Fürstensaal der Residenz. Keine Geringeren als die wunderbare Sopranistin Mojca Erdmann und ihr kongenialer Partner, der Pianist Malcolm Martineau, liefern den Beweis, dass das Kunstlied keineswegs tot ist und dass es interessante Einblicke ermöglicht in eine musikalische Vergangenheit, die immer noch ihre Berechtigung hat auf der Konzertbühne gerade durch den Ausdrucksreichtum der Singstimme in der kleinen, in sich abgeschlossenen Form.

Der Vormittag beginnt höchst anregend mit einer Auswahl von Liedern von Felix Mendelssohn-Bartholdy zum Thema romantische Liebesgefühle, vom Liebeszauber über die Trennung, den Zweifel, die Zuversicht, mündend in die Hoffnung auf ein neues Glück, manifestiert an der Natur und am Frühling. Wie schon beim ersten Lied Neue Liebe der Pianist mit seinem Spiel gleich die reitenden Wesen der Elfen aufklingen lässt, wie er Irisierendes, flüssig Perlendes oder starke Momente betont, erweist ihn als idealen Partner für die runde, flexibel gestaltende Stimme der Sängerin. Ihr hell-voller Sopran, anfangs noch etwas vibrato-gesättigt, kann bald mit glänzenden Höhen strahlen, gefällt mit angenehmer Tiefe und entfaltet einen ganzen Kosmos von Ausdrucksbreite und kluger Textinterpretation; so wird jedes Lied-Gedicht zu einem in sich abgeschlossenen, kleinen Stimmungsgemälde. 

Die innere Anteilnahme überträgt sich auch in äußere Bewegung. Die Legato-Linien betören mit schlichter Melodieseligkeit, neben dramatischen kurzen Höhepunkten gibt es auch sieghaftes Auftrumpfen, und das romantische Schweben „auf den Flügeln des Gesangs“ oder Träumerisches teilen sich unmittelbar mit. Dass Erdmann darüber hinaus eine ideale Mozartstimme besitzt, beweist sie bei auswendig vorgetragenen Mozart-Liedern; zum hellklingenden Klavier gibt sie mit scheinbar dramatischem Tempowechsel das berühmte Veilchen augenzwinkernd wieder, Dans un bois solitaire betört mit reinstem Wohlklang, und auch den Zauberer mit seiner für das Mädchen gefährlichen erotischen Magie gestaltet sie mit köstlichem Humor. Sie scheint aber auch schlicht Liedhaftes wie in An die Freude voll zu genießen nach einem entzückenden „ridente la calma“ tänzerisch beschwingt, kommt die Sehnsucht nach dem Frühling daher, und bei der Abendempfindung schimmert „des Mondes Silberglanz“ geradezu spürbar. Das Kokettieren mit der damals modischen Melancholie nimmt Erdmann nicht so ganz ernst. Ein Juwel: Die feinstvariierten und den Ausdruck noch vertiefenden Wiederholungen!

Es gibt aber noch eine Steigerung: Der vierteilige Zyklus Ollea von Aribert Reimann, komponiert 2006 für Sopran solo. Mojca Erdmann hatte die Uraufführung gesungen, und auch jetzt erweist sie sich als ideale Interpretin der vier Heine-Lieder, denn ihr kräftiger Sopran bewältigt mühelos die extremen Sprünge ohne Verlust an Klangschönheit, formulierte expressiv Heftiges, Wildes, Trotziges, Abgründig-Zerrissenes und kann so den Gehalt des Textes nicht nur durch Singen von Wörtern oder reine Vokalise, sondern auch durch Schreien, Sprechen und Flüstern, wenn es um den Tod geht, fühlbar machen. Der Zyklus ohne einen bestimmenden Takt endet ganz hoch, ganz licht, wie unwirklich in der Ferne des Himmels, mit Sterne. Langer Beifall, Bravos und eine hübsche Zugabe.       

Renate Freyeisen