Kulturmagazin mit Charakter
Buch
Im Anschluss an eine Inszenierung in Leipzig und ein darauffolgendes Interview entschließt sich Michael Ernst, fasziniert von dem Musiker und Menschen Michail Jurowski, dessen Biografie zu schreiben. Er beginnt im Vorwort mit einem Zeitraffer-Durchlauf durch den Werdegang des russischen Dirigenten, den er bei den Ersten Internationalen Schostakowitsch-Tagen 2010 im sächsischen Gohrisch kennen und schätzen lernt.
In sieben ausführlichen, thematisch gegliederten Kapiteln, die locker biographisch angeordnet sind, zeichnet Ernst die großen Linien und unzählige Detailgeschichten und Anekdoten, die er aus den Gesprächen mit Michail Jurowski herausfiltert und zu einem bunten, nicht streng chronologischen Bild des Musikliebhabers, Musikers und schließlich international anerkannten und gefragten Dirigenten zusammenfügt. Diese Bilder, Geschichten und Anekdoten reichen drei Generationen zurück in die Familiengeschichte, skizzieren die vielfältigen Beziehungen der Familie zum häufigen Gast Schostakowitsch und anderen Künstlern und zeichnen Jurowskis Weg über Moskau und Berlin in die internationale Welt der Musik.
Mit interessanten und amüsanten Details berichtet Ernst über die verschiedenen Ausbildungsstationen des jungen Jurowski, etwa wenn er von dem Pianisten und Dirigenten Leo Ginsburg in Moskau lernt „Das Gehör eines Dirigenten muss in Stereo funktionieren, wir müssen gleichzeitig mindestens vier Stimmen hören und kontrollieren können.“ Hinsichtlich der klassischen Musikliteratur sieht sich der junge Jurowski einer „terra incognita“ gegenüber und bekennt freimütig, hier „schwamm ich in einem völligen Chaos“. In zwei weiteren Musikstudenten findet er ehrgeizige Partner und kommt 1966 in Moskau zu seinem ersten öffentlichen Dirigat. Bald darauf tritt er erstmals mit Schostakowitsch zu vierhändigen Klavieraufführungen auf und darf an den Komponistenabenden in Rusa teilnehmen. Diese Zeit bezeichnet er später als „die glücklichste Zeit“ seines Lebens. Obwohl er von komponierenden Mitstudenten und Lehrern umgeben ist, erkennt er seine künftige Rolle, seine Aufgabe: „Ein Dirigent verwirklicht die Musik“ und „Wenn der Wind weht, höre ich Noten.“ Der junge Michail kann von Glück reden, wenn er berichtet: „Vater hat mich als Musiker und Dirigent absolut respektiert“. Wie sein Vater, Komponist Wladimir Michailowitsch Jurowski, muss auch Michail in der Nach-Stalin-Ära bei einem Musikwettbewerb erfahren, dass er als Jude nicht konkurrenzfähig und benachteiligt ist.
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Es folgen Jurowskis Stationen beim Großen Sinfonieorchester des Staatlichen Rundfunks und Fernsehens in Moskau, bei allen drei großen Opern in Berlin, bei verschiedenen großen Rundfunkorchestern und der Semperoper. Erste Auslandsaufenthalte führen ihn nach Deutschland und in die Niederlande, wo er moderne Kompositionen kennen lernt und prompt mit seinen Aufführungswünschen in Moskau politische Schwierigkeiten bekommt. Den Wechsel in die DDR und mit der Wende in ein freies Land verbindet Jurowski 1990 mit einem Wechsel der Staatsbürgerschaft und einem festen Vertrag für Dresden.
Ernst kann auch über manchen „Theaterdonner“, etwa aus Dresden oder Berlin berichten, die Michail Jurowskis impulsives Temperament schildern. Auch wenn Jurowskis Popularität sich nicht einfach aus Moskau in den Westen übertragen lässt, weisen seine Konzerttätigkeit und seine Konzert-Aufnahmen ihn als überaus geschäftigen und international gefragten Dirigenten aus, der sich nach seiner Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft „wie ein Weltbürger“ fühlt. Immer wieder führt Ernst seine Schilderungen Jurowskis auf die Musik zurück: „Musik ist mein Alles.“ Und es wird schon spannend, wenn der junge Jurowski sich fragt, „ob er Meisterwerke wie Tschaikowskis 4. oder Beethovens 5. Sinfonie studiere oder nicht schon in sich getragen habe“ und was Jurowski damit meint, wenn er von „ganzen Tagen voller Musik“ erzählt. Michails persönliches Credo klingt angesichts seiner intensiven Arbeit an und mit Musik durchaus glaubhaft: „Du musst an deinen Stern glauben.“
Das Schlusskapitel ist der Jurowski-Familiengeschichte gewidmet, einer Musik-Dynastie „in vier Generationen“. Michail Jurowski ist zweifelsfrei Spross einer Musikerfamilie. Beeindruckend wirkt im Schlusskapitel „Die Jurowski –Dynastie“ die Vorstellung dieses Musiker-Imperiums rund um die Familie Jurowski: „Eine Familie, die ganz in der Musik lebt – oder vielmehr: eine Familie, in der die Musik lebt“. Hinzu kommen zahlreiche aktive Musikerfreunde wie der Dirigent Neeme Järvi und die Familie Sanderling. Dieses Kapitel wirkt wegen seiner Dichte und der Unmittelbarkeit vieler Begegnungen besonders direkt und liest sich spannend.
Als Biograph wie als Berichterstatter wählt Ernst über weite Strecken des Textes die Verbform des Konjunktivs – sachlich durchaus korrekt. Der Effekt für den Leser ist aber eine merkwürdige Distanz zum Geschehen und zur Person Jurowski, über die auch großzügig eingestreute wörtliche Passagen des Dirigenten nicht hinweg führen. „Was wäre aus dem alten Mann … Und wie lange hätte es gedauert …“. So entsteht über weite Strecken des Textes eine „indirekte“ Beziehung des Lesers zum Hauptprotagonisten der Biografie, die häufig ermüdend wirkt. Das Credo des Autors, „wenn man dann aus nächster Nähe vom persönlich erlebten Schicksal erfährt, bekommen solche Schilderungen eine ganz andere Wucht und Dimension“ wünscht man sich über weite Strecken für dessen eigenen Text. Wenn Ernst über ein Erlebnis Michail Jurowskis bei der Durchsicht alter Familienfotos berichtet, bei dem Michael zu Vaters Füßen „wuselt“, Ernst aber weiter kühl protokolliert „Fast etwas ungläubig, ein wenig distanziert jedenfalls sichtet er heute die schwarz-weißen Bilder“, fragt sich der Leser, wo da der „wuselnde“ Knabe geblieben ist? Auch an anderer Stelle erstaunt die Distanz des Ernstschen Textes. „Und dieser Mann da, der mit dem schwarzen Mantel, der steht sehr oft mit dabei. Man achte auf seinen verkniffenen Blick. Ein Aufpasser? Ein Spitzel? Wer weiß.“ Ja, und …?
So bleibt der abschließende Gesamteindruck der Gestalt des Michail Jurowski gespalten: Einzelne Geschichten, Anekdoten, Berichte über musikalische Begegnungen und Ereignisse sind durchaus informativ, unterhaltend, überraschend, musik-adäquat. Andere Passagen wirken sachlich nüchtern, kühl, als hätten sie wenig mit Musik und einem von musikalischer Leidenschaft erfüllten Vollblut-Musiker zu tun. Das Bild des Michail Jurowski, das Ernst zeichnet, bleibt unscharf. Weder lernt der Leser die Konturen der Persönlichkeit des Künstlers kennen noch offenbaren sich ihm die künstlerischen Seiten eines Musikers, der mit zahlreichen international ausgewiesenen Orchestern vertraut und eng verbunden ist. Zahlreich eingestreute Fotos bringen die Person ein wenig näher. Schade, dass dieser Biografie trotz einer umfangreichen Diskografie keine Hörbeispiele beigefügt sind.
Ein ausführlicher Anhang mit tabellarischer Vita, einer Diskografie und weiteren Registern machen aus dem Band ein wissenschaftlich nutzbares Nachschlagewerk.
Horst Dichanz