Kulturmagazin mit Charakter
Buch
Die Pariser Uraufführung von Strawinskys Sacre du Printemps 1913 im Pariser Théâtre des Champs-Élyséeswar ein Skandal, der in die Musikgeschichte eingegangen ist. Sie endete mit einem Publikumsaufruhr sondergleichen und kulminierte in einer Massenschlägerei. Die Aufführung verantwortete ein Mann, der heute fast vergessen ist: Gabriel Astruc, Jahrgang 1864. Er begann seine Laufbahn als Journalist und Zeitungsherausgeber, gründete 1904 eine Künstleragentur, die so bedeutende Musiker wie den Pianisten Arthur Rubinstein vertrat, und war führend beim Aufbau des Théâtre des Champs-Élysées, dessen Intendanz er 1913 auch übernahm. Doch der glanzvollen Eröffnungssaison zum Trotz, musste das Haus nur ein gutes halbes Jahr später aus finanziellen Gründen den Betrieb einstellen.
Kurz vor seinem Tod 1938 schrieb Astruc unter dem Titel Meine Skandale ein Erinnerungsbuch, das ein lebendiges Bild vom damaligen Pariser Opernleben, von wichtigen Persönlichkeiten und vom Publikum im Allgemeinen mit seinen Sitten und Gebräuchen zeichnet.Reichlich gewürzt mit Anekdoten, Zitaten und Meinungen bedeutender Zeitgenossen berichtet Astruc im amüsanten Plauderton von der Sacre-Premiere und von drei weiteren Skandalen: von den organisatorischen Schwierigkeiten und Aufregungen, die Salome von Richard Strauss auf eine Pariser Bühne zu bringen, und wie der Komponist der Darstellerin des Schleiertanzes den Applaus verwehrte, weil er Ballett für minderwertig hielt; von den Animositäten rund um die Uraufführung von Debussys und D‘Annunzios Heiligenspektakel Le martyre de Saint Sebastien, das auf solchen Widerstand der katholischen Kirche stieß, dass sie ihren Glaubensanhängern den Besuch der Vorstellung verbot; und nicht zuletzt vom Auftritt des Ballettstars Vaslaw Nijinsky als Faun in Debussys Prélude a l’après-midi d’un faune, der wegen seiner unverhohlen sexuellen Anspielungen als obszön wahrgenommen wurde.
Von Nijinsky ist noch in einem weiteren Kapitel zu lesen. In ihm schildert Astruc seine Begegnungen mit Sergej Diaghilev, dem charismatischen Leiter des damals weltberühmten Ensembles Ballet Russes, zu dem Nijinsky gehörte. Wunderbar plastisch erzählt Astruc, wie ihm Diaghilev leidenschaftlich vom Tanz und seiner Truppe vorschwärmte, woraufhin er sie nach Paris engagierte.
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Nicht ganz so heiter und mit bitterem Unterton ist der Text, den Astruc kurz nach der Schließung des Théâtre des Champs-Élysées schrieb. Desillusioniert analysiert er, warum sogenannte „Musikliebhaber“ nicht seinen anspruchsvollen Weg der Moderne mitgingen, sondern leichte Unterhaltung bevorzugten.
Astruc verfasste Meine Skandale schon 1936. Aber erst 2013, also fast 80 Jahre später, wurde es in Frankreich publiziert. Die vermutlichen Hintergründe für das späte Erscheinen und die Recherche nach dem zwischenzeitlich verschollen geglaubten Manuskript sind in einem Vorwort detailliert beschrieben, ein biografischer Text über Astruc ist ebenso beigefügt.
Die deutsche Ausgabe in der geschliffenen Übersetzung von Joachim Kalka erschien 2015 im Berenberg Verlag. Der Band ist mit zahlreichen historischen, teilweise farbigen Fotos wunderschön ausgestattet und deshalb nicht nur ein empfehlenswertes Lesevergnügen, sondern auch eine kleine bibliophile Kostbarkeit.
Karin Coper