Kulturmagazin mit Charakter
Buch
An Zeugnissen und Bekenntnissen, denen zufolge die Operette seit geraumer Zeit eine Renaissance erlebt, besteht ganz gewiss kein Mangel. An Analyse und Reflexion indes schon, gerät etwa die augenscheinliche Verbindung zwischen Hochkonjunkturen des Genres einerseits und politischen Katastrophen andererseits in den Blick. Folgten doch den Blütezeiten der Französischen, der Wiener und der Berliner Operette jeweils Kriege rivalisierender Nationalstaaten und zuletzt jener Weltenbrand, den das NS-Regime auslöste. Die Annahme einer quasi seismographischen Verbindung zwischen dieser so eigenen ästhetischen Form des Musiktheaters und der kollektiven Untergangsstimmung mag extrem spekulativ sein - diskutabel und somit erkenntnisfördernd dürfte sie auf alle Fälle sein. Bemerkenswerterweise wird ihr keinerlei Aufmerksamkeit in dem ansonsten außerordentlich profunden und kenntnisreichen Buch geschenkt, das den Anspruch einlösen will, die Operette „Zwischen Bravour und Banalität“ auszuleuchten. Vorhang hoch, Spot an, Verstehen her!
Die Veröffentlichung ist nicht das klassische Sachbuch eines einzelnen Experten. Der unter dem Titel Kunst der Oberfläche im Henschel Verlag erschienene Band von Bettina Brandl-Risi und Clemens Risi dokumentiert vielmehr eine Summe vielfältiger theoretischer Erkenntnisse und praktischer Ergebnisse eines mehrtägigen Operettensymposiums von Wissenschaftlern, Philosophen und Künstlern aus Deutschland, weiteren europäischen Ländern und den USA. Es fand im Frühjahr 2015 am heimlichen Wallfahrtsort der Operette heute, in der Komischen Oper Berlin, statt, die auch als Herausgeberin fungiert. Ihren Titel entlehnt die Sammlung der Terminologie des Kulturkritikers und ersten Filmsoziologen Siegfried Kracauer. Dieser fasst um 1920 in dem Begriff seine Auffassung, der Gehalt einer Epoche – wir würden heute womöglich von Zeitgeist sprechen – sei vor allem an den Oberflächenäußerungen ihrer Kultur zu erkennen.
Die Tauglichkeit des Ansatzes erschließt sich gleich in mehreren der dokumentierten Vorträge, Artikel und Diskussionen. Ist es doch die enorme Durchlässigkeit des Genres für die Spiegelung ganz unterschiedlicher Stoffe, Kulturen, Strukturen, die die Operette in Umbruchzeiten zur Membran von Trends, Moden, Experimenten werden lässt. Zu Beginn der 1930-er Jahre etabliert sich beispielsweise der Typus der Revue-Operette, die wie in einem Prozess der Osmose aktuelle Tänze aus den USA wie Charleston, Cakewalk, Foxtrott und Shimmy adaptiert. Paul Abraham bringt das in seiner 1932 in Berlin herausgekommenen Jazz-Operette Ball im Savoy mit großem Vergnügen auf einen kontinentalen Begriff. Am Beispiel der Revue-Operette, schreibt der Theaterwissenschaftler Clemens Risi, werde erfahrbar, wie das Austesten und Übertreten von Grenzen der Kultur, des Moralischen und des guten Geschmacks diese Oberflächen so reizvoll funkeln lasse. „Eindeutige sexuelle Anspielungen und Verwirrung der Geschlechterrollen durch Cross-Dressing etwa“, sagt Risi, „gehören zu den genrebestimmenden Ingredienzien. Erst in der spezifischen Überlagerung dieser Konstruktionen und Effekte werden die Revue-Operetten als ‚Brennspiegel‘ kenntlich.“
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Die genrespezifische Offenheit für das Neue, für unkonventionelles Denken, für Liberalität und moderne Gender-Auffassungen, die „Radikalität der Form“ – so drückt es Barry Kosky, Intendant der Komischen Oper Berlin, aus – das alles wird der Operette schon bald nach ihrem „Goldenen Zeitalter“ zum Verhängnis, diese im Gleichschaltungswahn der Nationalsozialisten weichgespült und ihrer politischen Dimension beraubt. Es ist ein großes Verdienst dieses Symposiums und seiner „historischen Bohrungen“, die Tiefe dieser kulturpolitisch einschneidenden Zäsur herauszuarbeiten, „die Frage von Mechanismen der Hegemonialisierung und Verdrängung im Repertoire, die bis in unsere Gegenwart wirken“, wie Risi befindet.
Ähnlich starke Ambitionen haben offenbar die Akteure des Symposiums bei ihrem Bemühen angetrieben, die vor allem in der deutschen Kultur des 19. Jahrhunderts vorherrschende Trennung zwischen „U“ und „E“ aufbrechen zu wollen, aus deren Synthese und Überwindung die Operette einst hervorging. Allen voran Kosky, der aus seiner Ablehnung dieses „rein deutschen Phänomens“ im Allgemeinen und Richard Wagners Ideologie im Besonderen keinen Hehl macht. Der Hausherr der Veranstaltung gibt hier die Richtung des Denkens im Sinne einer political correctness an. Gerade bei Aufgabe der Differenzierung, postuliert Kosky mit Verve, gerade aus dem Konflikt der wechselseitigen Durchdringung von Hochkultur und Unterhaltung entstehe eine neue politische Öffentlichkeit – ein Theater der politischen Kritik. Kaum jedoch ist der Gipfel der Bahn brechenden Erkenntnis erreicht, folgt der Abstieg in die Niederschwelligkeit: „Als Künstler ist mir das Thema im Grunde bereits egal. Ich kenne eigentlich keine Künstler, die sich mit dieser Differenzierung noch eingehender beschäftigen.“
Schade. Wäre Kosky zum Beispiel das Phänomen der Klassik-Einbahnstraße in den öffentlich-rechtlichen Hörfunkprogrammen ein Begriff, würde er womöglich weniger kategorisch sprechen. Kulturprogramme mit dem Fokus auf Oper und Konzert als Einfallstor für Jazz, Rock, Pop oder Weltmusik? Jederzeit und selbstverständlich! Mainstream-, Pop- und Jugendwellen durchlässig für die Hochkultur der Klassik? Niemals, nicht mal ein Gedanke bei den Verantwortlichen! Nur Reflexe der Abwehr, Schubladendenken, wie es die Apologeten eines befreiten Denkens über die Operette gerade ja ablehnen. Nicht einmal die Ungarischen Tänze und Rhapsodien von Brahms und Liszt schaffen es hier in die playlists, einfach zu konsumierende Prototypen einer U-Musik in der Klassik, die nicht allein ein Genuss-, sondern auch gar ein Bildungserlebnis garantierte.
Nicht gerade wenig Aufwand bieten die Autoren auf, um die „kleine uneheliche Schwester der Oper“, wie die Wissenschaftlerin Iris Dankemeyer die Operette begreift, aus dem Ghetto ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterschätzung zu befreien. Das hat streckenweise lesenswerten Charme wie die Kapitel, die sich um Stars und Diven drehen, freilich den Nachteil einer dominierenden Retrospektive. Die eigentliche Dimension einer mehrtägigen Reflexion um die Kardinalfrage Quo vadis Operette?, nämlich die nach ihrer zukünftigen Aufführungspraxis, bleibt so ein Stück unterbelichtet. Mehr hierzu als die selbstverliebten Plädoyers der Performance-Gruppe Interrobang wären wünschenswert gewesen. Was will uns etwa Nina Tecklenburg wirklich mitteilen, wenn sie deklamiert: „Die neue Operette, wie ich sie vorschlagen möchte, ist ein intellektueller Orgasmus: Sie verbindet musikalisch-theatrale Unterhaltung mit geistiger Herausforderung.“ Auch die Kapitel zum Stichwort „Operette heute“, Reflexionen zu Kosky-Inszenierungen von Operetten Abrahams und Offenbachs der letzten Jahre, bieten da wenig Perspektivisches. Im Verein mit dem Anteil der Farbbildseiten im Innenteil des Buches, Dokumente der nämlichen Kosky-Regiearbeiten, vermitteln sie eher eine Schieflage der Gewichtung als ein ausschließliches Erkenntnisinteresse.
Insgesamt freilich entsteht eine den Leser fordernde Tiefe der Oberfläche, die es künftig jenen schwerer machen dürfte, frivol über das vermeintlich leichte Sujet der Operette zu schwadronieren. Eine Kunst, die über lange Zeit eher unterschätzt worden ist, mag dann gern auch einmal überschätzt werden.
Ralf Siepmann