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Zeitgenössische Oper gegen das Vergessen

In ihrem Roman Pasazerka schildert die polnische Auschwitzüberlebende Zofia Posmysz ihre Erlebnisse in der Hölle des Konzentrationslagers. Ende der 1950-er Jahre begegnet die einstige Lagerinsassin Marta der Aufseherin Lisa bei einer Schiffsreise nach Brasilien wieder. Ein großes Stück über Schuld und Sühne, vor allem aber über Verdrängung. Alexander Medwedjew behält in seinem Libretto die Grundstruktur des Romans bei, passt nur einzelne Handlungsstränge dem Opernsujet an. Komponist Mieczyslaw Weinberg kombiniert es mit seiner Musik.

Und so entsteht die Oper Die Passagierin, die Ludwig Steinbach für die „bedeutendste Oper der Jetztzeit“ hält. Dem Juristen, Sänger und Kritiker gefällt das Werk so gut, dass er darüber eine fast 240 Seiten starke Analyse mit 147 Notenbeispielen angefertigt hat. Die ist im Verlagshaus Schlösser als Paperback-Ausgabe erschienen.

„Untersuchungen von Weinbergs Werk gibt es bislang noch nicht. Angesichts des thematischen und musikalischen Reichtums der Passagierin ist eine solche aber dringend geboten. Der hoch interessante Gehalt der Partitur schreit geradezu nach einer tiefschürfenden Analyse. Zudem war es mir ein großes Anliegen, als nachgeborener Angehöriger gerade des Volkes, das Weinbergs Familie so viel bitteres Leid zugefügt hat, diesen genialen Komponisten wieder einem breiten Publikum bekannt zu machen“, begründet Steinbach sein umfangreiches Opus.

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Allerdings stellt der Autor an das Publikum recht hohe Anforderungen. Das sollte nicht nur des Notenlesens mächtig sein, sondern sich auch bei Passagen wie dieser die Klangfolge vorstellen können: „Auf dem emotionalen Höhepunkt von Walters Reflexion setzt Weinberg ein weiteres Thema, das vom es‘‘ aus in Triolen abwärts gerichtet ist. Hier wird musikalisch das höchste Gefühl des Menschen gepriesen, dessen herausragende Bedeutung durch die an dieser Stelle gänzlich fehlende Orchesterbegleitung – erst auf dem Schlusston es‘ tritt als enharmonische Verwechslung ein dis‘ des Fagotts hinzu – nur noch verstärkt wird: die Liebe.“

Für Dramaturgen, Regisseure oder Dirigenten, die eine Aufführung des Werks beabsichtigen, mag das Werk sehr wohl eine Deutungshilfe sein – und das läge ja durchaus in der Intention des Verfassers. Die Aufführungsgeschichte der Oper gibt noch nicht so viel her. Obwohl bereits 1968 fertiggestellt, wurde die Passagierin zum ersten Mal 2006 in Moskau konzertant aufgeführt, ehe sie erstmals vier Jahre später in Bregenz auf die Bühne kam. Wiederum drei Jahre später fand die deutsche Erstaufführung in Karlsruhe statt, eine weitere in Frankfurt im vergangenen Jahr. Und für die kommende Spielzeit ist eine weitere Inszenierung in Nordrhein-Westfalen geplant.

Steinbach hat die drei Inszenierungen selbst erlebt. Leider lässt er diese Erfahrungen bis auf ein paar allgemeine Bemerkungen nicht weiter in sein Buch einfließen. Was ihm aber mit seiner Fleißarbeit gelingt, ist ein Denkanstoß. Denn er setzt ein Signal, indem er das inzwischen oft zu beobachtende oberflächliche Konsumieren von Aufführungen durchbricht und daran erinnert, dass eine tiefergehende Auseinandersetzung mit einem Werk wie beispielsweise der Passagierin häufig auch erst den richtigen Zugang und damit den höheren persönlichen Gewinn ermöglicht.

Michael S. Zerban