Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

DVD/Online-Angebot

Musik verstehen für fast jeden

Der Zeit-Verlag hat im Rahmen erheblicher Erweiterungen seines traditionellen Druckgeschäftes mit der Zeit-Akademie sein unternehmerisches Engagement umfangreich ausgedehnt. Von dem anspruchsvollen Angebot der Zeit-Akademie im Bereich privater Weiterbildung über exklusive Schiffsreisen, von bekannten Künstlern begleiteten Musikreisen bis zum Online-Angebot eines Abonnements der Konzerte der Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle finden verwöhnte Geschmäcker viel Auserlesenes für Muße und Genuss. Da passt eine Ergänzung des exklusiven Angebots um ein privat verfügbares akademisch-musikalisches Weiterbildungsprogramm durchaus ins Bild. In einem Online-Angebot oder auf vier DVDs und einem Begleitbuch bietet die Zeit-Akademie ein universitätsnahes Informationsprogramm, das sich aus wissenschaftlicher Sicht in acht Lektionen der Musikkultur und ihrer Geschichte zuwendet und zentrale Fragen der Musikgeschichte und der Musikwissenschaft behandelt. Die Kapitel reichen von der Grundfrage „Was ist Musik?“ über Fragen der unterschiedlichen Interpretation musikalischer Werke oder den Merkmalen der Neuen Musik bis zum „multimedialen Vergnügen“ der Oper.

Melanie Unseld, Professorin für Kulturgeschichte der Musik an der Universität Oldenburg, hat hierfür in weitgehend wissenschaftlicher Diktion einen relativ trocken-sachlichen Text entworfen, den sie selbst vorträgt. Sie greift in ihren Texten häufig auf Originalquellen zurück, verwendet Abbildungen und Portraits. Ergänzt werden ihre Ausführungen durch Interviews mit Komponisten, Dirigenten, Intendanten und Solisten sowie durch Musikeinspielungen.

Wer das Online-Angebot einschaltet oder die erste DVD auflegt, ist von der Formalität und Kühle der Präsentationen überrascht. Geht es nicht um „Musik“, um „Konzerte, die uns von den Stühlen reißen und uns zu Tränen rühren“ können? Die Lektionen von Melanie Unseld sind präzise formuliert, streng formal gegliedert, sie enthalten sinnvolle Zusammenfassungen. Sie sind fachwissenschaftlich genau und in ihren Informationen weiterführend, erfordern aber ausdauernde Konzentration.

POINTS OF HONOR
Musik
Idee
Stil
Erkenntnis
Preis/Leistung
Verarbeitung
Chat-Faktor

Es ist schon interessant, Einzelheiten der Entwicklung des Klaviers vom Virginale zum modernen Konzertflügel kennen zu lernen, zu hören, dass Mozart zu seiner Zeit als Klaviervirtuose bekannter war denn als Komponist, und mit der Autorin die Oper als „multimediales Vergnügen“ zu erfahren, um sie als „Gesamtkunstwerk“ zu erleben. Die Entwicklung der Kammermusik von der „musica da camera“ zur „öffentlichen Musik“ illustriert den fortlaufenden Wandel des Musikschaffens, der Musikpraxis und der Hörgewohnheiten, die nicht jedermann geläufig sind. Sie betreffen nicht nur das Musikleben einer Epoche, sondern verraten viel über das gesellschaftliche Leben ihrer Zeit. Unseld kann berichten, dass Stillschweigen im Konzert eine Seltenheit war, „stattdessen standen Kartenspiele, Essen und Trinken, Rauchen, Plaudern und Schwatzen, ja sogar Rufen und Füßetrampeln auf der Tagesordnung ... Das Dirigieren sei im Nebel unzähliger Tabakspfeifen nicht leicht“ gewesen.

Die Lektionen führen musikwissenschaftlich weiter, können das Musikerleben des Rezipienten zweifellos erweitern, differenzieren und neue Beziehungen zwischen dem Musikerleben und der gesellschaftlichen Entwicklung beleuchten. Die vorgetragenen Lektionen sind wortgleich im Begleitbuch abgedruckt. Das Buch enthält darüber hinaus die Biografien der mitwirkenden Personen und Quellenangaben sowie nützliche Internetlinks. So erweisen sich etwa die von der Bayerischen Staatsbibliothek verwaltete Adresse https://www.vifamusik.de und der Verweis auf das Deutsche Musikinformationszentrum http://www.miz.org in Bonn auch für den Laien als außerordentlich nützliche Hilfen.

In der achten, der Schlusslektion äußert sich Unseld ausführlich im Gespräch mit der Redakteurin Christine Lemke-Matwey zum Thema Oper. In mehreren Gesprächen und Interviews ist Ingo Metzmacher ein lebendiger, unprätentiöser, offener Gesprächspartner, der die Fragen von Lemke-Matwey nicht nur mit umfangreichem Wissen „abarbeitet“, sondern ihnen nachdenklich, interessiert und engagiert mit eigenen Fragen folgt und sie mit zahlreichen Piano-Beispielen illustriert. Mit dem Intendanten der Hamburger Elbphilharmonie und der Laeiszhalle, Christoph Lieben-Seutter, versucht Lemke-Matwey einen Blick in die nahe musikalische Zukunft und geht der Frage nach, welche Erwartungen das heutige Publikum an Konzerte hat. Lieben-Seutters Blick in die „Zukunft der Musik“ aus der Perspektive der Hamburger Elbphilharmonie bringt eine weitere Perspektive „klassischer Musik“ in die Diskussion.

Medien- und hochschuldidaktisch folgen die Vorträge durchweg traditionellen Mustern. Zum einen tritt Unseld selbst nicht gerade als belebende Dozentin auf, vor der Kamera wirkt sie eher statisch und sehr kontrolliert.  Unverständlich ist, dass weder Redaktion noch Kameraführung Unselds Gewohnheit korrigieren, häufig und lange an der Kameraperspektive des Betrachters vorbei zu schauen –  wahrscheinlich, um vom Prompter den Text abzulesen. Die Gliederungspunkte mit formalen Zwischenüberschriften wirken hölzern und ungelenk. Warum Unseld nicht gelegentlich auf grafische Hilfen zurückgreift, bleibt ihr und der Redakteurin Christine Lemke-Matweys Geheimnis. Neue Elemente des blended learning, wie sie heute in zeitgemäßen Lehrangeboten längst üblich sind, bleiben ungenutzt. An einigen Stellen vermisst der Zuhörer eingespielte Musikbeispiele wie etwa nach dem begeisterten Interview mit der Geigerin Carolin Widmann. Mit dem Pianisten und Kammermusikspezialisten Herbert Schuch kehrt die Lektion zu einem sehr sachbetonten Stil zurück, auch hier wäre ein Piano-Musikbeispiel angebracht.

Im Opern-Interview, das Christine Lemke-Matwey gegen Schluss mit Melanie Unseld führt, haben beide eine gewisse Routine und Lockerheit erreicht, die es wirklich zu einem Gespräch kommen lässt. Einer der musikalischen Höhepunkte der Lektionen dürften die Ausschnitte aus Beethovens 5. Sinfonie c-moll mit den Berliner Symphonikern unter Leitung von Nikolaus Harnoncourt sein, auf die Metzmacher in einem Interview zurückgreift. An anderer Stelle präsentiert Metzmacher weniger das, was er und andere schon wissen, sondern stellt Fragen, die ihn im täglichen Umfang mit Musik beschäftigen. Er gibt zu, „Musik zu erklären, ist eine schwierige Sache“. Und dennoch scheut er sich nicht, seit 2008 in Berlin mit den „casual concerts“ des Deutschen Symphonieorchesters mit niedrigen Preisen ein Publikum zu locken, das wenig Vorkenntnisse über Musik hat. Aber, das ist seine Erfahrung, die Leute „kommen wegen der Musik.“ Es sind die Interviews und die Einspielungen, die ein wenig von der Begeisterung und dem Enthusiasmus vermitteln, mit dem die Interviewpartner ihr Verhältnis zur Musik beschreiben. Hier hat der Zuhörer das Gefühl, dass Musik viel mit Gefühl zu tun hat und „zu Tränen rühren“ kann.

Mit einer Gesamtlaufzeit der Lektionen von 314 Minuten entspricht das Angebot zeitlich etwa sieben konventionellen Vorlesungen, die Interviews und Mitschnitte mitberücksichtigt. Der Rezipient kann mit Hilfe der Randverweise die konzentrierten Lektionen zu einem umfangreichen individuellen Unterhaltungs- und Bildungsprogramm erweitern, das Spielraum für unterschiedlichste Wünsche lässt. Mit dieser insgesamt acht Lektionen umfassenden Vorlesungsreihe hat die Zeit-Akademie eine individuelle Weiterbildungsmöglichkeit geschaffen, mit der viele Musikinteressierte, die einige Vorkenntnisse in Sachen „Klassische Musik“ mitbringen, Neues in dieser Musik entdecken und verstehen lernen können. In mediendidaktischer Hinsicht bleiben einige Wünsche offen.

Horst Dichanz