Kulturmagazin mit Charakter
Medien
Inzwischen hat der technische Fortschritt eine Geschwindigkeit erreicht, die das Vorstellungsvermögen vieler Menschen übersteigt. Was gestern noch unmöglich erschien, ist morgen bereits veraltet. Manch einer kommt da nicht mehr mit und reagiert hilflos mit Ignoranz. Im Foyer eines Theatergebäudes im Ruhrgebiet sind Zettel aufgehängt, die das Mitbringen von Geräten verbieten, mit denen audiovisuelle Aufnahmen möglich sind, also Töne, Bilder oder Videos aufgezeichnet werden können. Vor der Aufführung wird darauf hingewiesen, dass die Smartphones auszuschalten sind. Ganze Institutionen versagen also angesichts dieses Tempos, nicht nur das Individuum.
Noch exzessiver ist die Entwicklung im Internet. Während ältere Herrschaften sich noch vereinzelt, aber stolz der E-Mail verweigern, ist sie bei der jungen Generation längst schon wieder Vergangenheit. Die Jungen halten sich nicht mehr mit dem Gedanken auf, Dinge bewahren zu wollen, und können infolgedessen mit Schnatterprogrammen viel schneller kommunizieren. Skurrile Randerscheinung: Telefonieren wollen die Jungen nicht mehr, freuen sich aber, dass inzwischen das Versenden von Sprachnachrichten möglich ist, und machen davon regen Gebrauch.
Viele Zeitgenossen verharren immer noch in der Vorstellung, dass sie die Weiterentwicklungen im Internet nicht zur Kenntnis nehmen müssen. Die öffentlich-rechtlichen Medien baden im eigenen Saft und sind so sehr damit beschäftigt, selbst mit der Technologie Schritt zu halten, dass sie nicht mehr ansatzweise ihrem Informationsauftrag nachkommen. Anstatt die Bürger, die sie bezahlen müssen, darüber zu informieren, welche Bedeutung das Internet und seine Veränderungen für sie hat, stecken sie die Gelder in die eigene Internetzukunft, für die – quasi an der Öffentlichkeit vorbei – eigens Gesetze geändert werden mussten. Sehr wohl wissend, dass Experten davon ausgehen, dass es sie in Zukunft nicht mehr geben wird. Andere Institutionen stecken die staatlichen Gelder, die sie für ihre kulturellen Aufgaben erhalten, ebenfalls in die Weiterentwicklung ihrer Internetauftritte.
Online-Streaming heißt das Zauberwort, bei dem viele Bürger am liebsten gleich wieder weghören. Schon wieder ein Fremdwort, das keiner versteht, schon wieder eine Neuerung im Internet, die man am liebsten gar nicht wahrnehmen will. Und schon wieder so eine Sache, deren Tragweite die öffentlich-rechtlichen Medien nicht einmal ansatzweise erklären. Online-Streaming ist, vereinfacht ausgedrückt, nichts weniger als das Fernsehprogramm der Zukunft.
Opera2day ist ein kleines, kaum öffentlich gefördertes Musiktheaterensemble mit Sitz im niederländischen Den Haag, das mit seinen ungewöhnlichen Produktionen nicht nur seit 2007 Aufsehen über die Landesgrenzen hinaus erregt, sondern auch durch das ganze Land tourt. Während die Nationale Reisopera mit Sitz in Enschede und die Opera Zuid aus Arnheim mit immer weniger öffentlichen Geldern versuchen, die Fläche zumindest mit den wichtigsten Opern zu versorgen, hat Opera2day ein ganz anderes Konzept entwickelt. Das Team um den Musiktheater-Regisseur und Künstlerischen Leiter Serge van Veggel fühlt sich musikalisch der historisch informierten Aufführungspraxis verpflichtet und gräbt gern alte Opernstoffe aus, um sie auf der Bühne – meist sehr fantasievoll – in die Gegenwart zu verlegen. Eine Idee, die nicht nur in Den Haag, sondern im ganzen Land und inzwischen auch darüber hinaus große Begeisterung findet.
Mit La Troupe d’Orphée – dem Orpheus-Ensemble – gelang der Truppe allerdings nicht nur einer ihrer weiteren Erfolge auf der Bühne. Uraufgeführt wurde die Orpheus-Geschichte in der Grote Kerk, der Stadtkirche von Den Haag, mit großartigen Darstellern, von denen hier nur Reinoud van Mechelen als Orpheus und Sophie Junker als Eurydike genannt seien. Wunderbar frisch, witzig und voller Fantasie inzeniert von van Veggel. Der eigentliche Coup: Sieben hochauflösende Kameras fingen das Geschehen ein. „Wir haben schon früher Material in geringerer Auflösung produziert“, erzählt Hernán Schvartzman, Musikalischer Leiter von Opera2day. „Aber La troupe d’Orphée ist tatsächlich die erste Aufzeichnung, die wir hochauflösend aufgenommen haben.“ Also wurde daraus eine DVD. Die kann man in Den Haag direkt bestellen. Aber eigentlich interessiert das keinen mehr. Denn die Aufzeichnung ist jetzt auch im Internet veröffentlicht. Zwar nicht, wie sich das mit Steuergeldern gestützte Häuser beispielsweise in Berlin und München bereits leisten können, auf der eigenen Website. Dafür wird man bei dem Internetdienst, auf den die Aufzeichnung ausgelagert wurde, sehr freundlich und umfassend betreut. Und wer sich die Qualität dieses Online-Streamings auf dem Smartphone, Tablet, PC oder Fernseher anschaut, wird keine DVD mehr sehen wollen. So groß ist der Qualitätsunterschied. Und am Ende der 115 Minuten ist man geneigt zu sagen: Endlich gibt es keine hässlichen Plastikschachteln mehr im Wohnzimmer. Wir verlagern unser Filmarchiv ins Internet. Und haben es endlich, egal, wo wir sind, verfügbar. Ist damit also auch die DVD Vergangenheit? Ganz so euphorisch sieht es Schvartzman nicht. „Es ist schwierig zu sagen. Auf der einen Seite kommt die Qualität der DVD nicht annäherungsweise an das Online-Streaming heran, auf der anderen Seite denke ich, dass die Menschen noch eine ganze Weile an den DVD, die sie in den Händen halten können, festhalten werden. Das Streaming wird langsam wachsen, aber die DVD wird es noch eine ganze Weile geben“, sagt er.
In der Tat gibt es noch etliche unbeantwortete Fragen. Zwar bietet Opera2day die absolut überzeugende Qualität für einen kleinen Jahrespreis an. Aber nach dem Jahr steht die DVD immer noch im Regal, während die Aufzeichnung im Internet bei Nichtverlängerung entschwunden ist. So hässlich die Standard-Plastikschachteln im Regal erscheinen, das Begleitheft ist mit einem Griff parat. Der Internetdienst bietet keinen Raum für Zusatzinformationen. Und die gewünschten Informationen auf der Website von Opera2day zu finden, ist auch nicht mit einem Klick zu lösen. Von Zusatzinformationen wie einem anderen Blickwinkel – schon damals bei Videokassetten Standard – ist im Internet bislang nicht die Rede. Und letztlich muss auch die Frage erlaubt sein, wie teuer den Bürger eigentlich das Gesamtprogramm kommt, wenn er denn alle Jahresmieten aller Angebote gezahlt hat. Ganz zu schweigen davon, wohin eigentlich eine geldbedingte Informationsschmälerung führt.
Ebenfalls unbeantwortet bleibt bis heute, wie die Menschen eigentlich von den einzelnen Angeboten erfahren. „Wir haben natürlich einen nicht unerheblichen E-Mail-Verteiler, den wir aus unserem Publikum in den Niederlanden generieren. Und ansonsten setzen wir auf internationale PR-Arbeit“, erzählt Schvartzman. So richtig überzeugt das nicht.
Online-Streaming ist ein Thema, das längst jeden Bürger, gleich welchen Geschlechts, beschäftigen sollte. Auch in Den Haag stehen weitere Produktionen auf dem Zettel. Zwei Produktionen werden gerade für die Veröffentlichung vorbereitet. „Und zukünftige Aufführungen werden natürlich ebenfalls dokumentiert“, freut sich Schvartzman. Das Publikum – von der wachsenden Fangemeinde, die Opera2day verzeichnen kann, einmal abgesehen – wird es in der Zukunft nicht einfacher haben. Wo früher die Programmzeitschrift einen Leitfaden bildete, gibt es heute noch keine Antworten, wie man sich sein eigenes Programm im Internet erstellen kann. Aber La troupe d’Orphée sollte man auf jeden Fall gesehen haben – im Internet.
Michael S. Zerban