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100 Jahre Britten


 
 

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Ein Mann und das Meer

Der Britten-Experte und Fan Neil Powell bezeichnet den Komponisten als „größten englischen Komponisten auf Augenhöhe mit Henry Purcell und Edward Elgar“ und als „einen der begabtesten Musiker, der jemals in diesem Lande geboren wurde.“ Das sind ziemlich starke Worte für einen vor erst 37 Jahren verstorbenen Komponisten von der oft rauen Ostküste Englands, der auf dem europäischen Festland nicht ganz so glühend verehrt wird. Die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag sind in vollem Gange. Opernnetz bietet einen Überblick.

Zum 100. Geburtstag des Komponisten, Dirigenten und Pianisten Edward Benjamin Britten feiert ganz England mit zahllosen Veranstaltungen das Werk des bedeutendsten englischen Opernkomponisten des 20. Jahrhunderts. Hierzulande ist das große und komplexe Schaffen Brittens eher unbekannt; die ganz große Komposition mit Ohrwurm-Charakter, wie sie bei vielen anderen Komponisten zu finden ist, blieb bei ihm aus. Und dennoch sind unter den vielen konzertanten und symphonischen Werken sowie den Chorwerken wunderbare Stücke zu entdecken, die einen Tiefgang entfalten, der nicht zum hin-hören, sondern zum zu-hören einlädt. Brittens Opernkompositionen erzählen meist von Außenseitern, sind oft düster und komplex. Und dennoch sind seine Kompositionen vor allen Dingen eines: Klar strukturiert und musikalisch durchscheinend. Britten lehnte ausufernde, kitschig triefende Klanggemälde strikt ab: „Für mich ist Musik etwas Klärendes; ich versuche zu klären, zu verfeinern, zu sensibilisieren... Meine Technik besteht darin, alles Überflüssige fortzunehmen; absolute Klarheit des Ausdrucks zu erreichen, das ist mein Ziel.“

Geboren wurde Britten am 22. November 1913 in Lowestoft, der östlichen Grafschaft Suffolk in England, als viertes und letztes Kind von Robert Victor und seiner Ehefrau Edith Rhoda Britten. Der Vater betreibt eine florierende Zahnarztpraxis im Erdgeschoss des Elternhauses, seine Mutter engagiert sich karikativ bei den kleinen Leuten, deren soziale Not, hervorgerufen durch die kapitalistischen Besitzverhältnisse in England zur Zeit der Industrialisierung, groß ist. Die damit verbundenen Erlebnisse prägen den kleinen Ben: die Naturgewalten dieses Landstrichs, das Meeresrauschen, eine puritanisch geprägte Gesellschaft.

Die ersten Klavierstunden erhält er früh von seiner Mutter, die rasch sein Talent erkennt und mit Nachdruck fördert. Er beherrscht zuerst die Notenschrift, Buchstaben zu lesen, lernt er später. Bereits mit fünf Jahren beginnt Britten zu komponieren. Der Komponist Frank Bridges wird 1924 Brittens Lehrer und begleitet ihn noch während seines Studiums am Royal College of Music in London. Nach dem Studium arbeitet Britten als selbstständiger Komponist unter anderem für Film und Fernsehen. Seine Begegnung mit dem nonkonformistischen Enfant terrible der linksgerichteten englischen Poeten, W.H. Auden, beeinflusst sein Schaffen nachhaltig – Britten vertont eine Vielzahl von Audens Werken, und eine lebenslange enge Freundschaft entsteht.

Düstere Zeiten

Britten pflegt eine starke Bindung zu seiner Mutter, die 1937 stirbt. Im selben Jahr schließt Britten Freundschaft mit dem Tenor Peter Pears; die Partnerschaft hält bis zum Tode Brittens 1976. Britten hat sich nie in der Öffentlichkeit zu seiner Homosexualität bekannt. Trotz großen Rückhalts im Freundeskreis ist es in einer postviktorianischen geprägten Zeit schwer, sich zu seiner sexuellen Gesinnung bekennen zu können, ohne Restriktionen befürchten zu müssen. 1939 flieht er vor den Schrecken des Zweiten Weltkriegs mit Pears nach Nordamerika. Als überzeugter Pazifist plagt ihn 1942 trotzdem das Heimweh nach seiner Heimatstadt Suffolk, der er sein Leben lang treu bleibt. „Suffolk mit seiner welligen, trauten Landschaft, seinen herrlichen gotischen Kirchen, hoch und eng, mit seinen Marschen, seinen wilden Wasservögeln, seinen großen Häfen, seinen kleinen Fischerdörfern. Ich bin ganz und gar in dieser wunderbaren Grafschaft verwurzelt“, schwärmt der Komponist.

Als er sich nach der riskanten Rückkehr als Kriegsdienstverweigerer verteidigen muss, wird ein Abkommen getroffen, dass Britten ohne Bezahlung für die englische Bevölkerung auf Konzerttournee geht. Auch nach dem Krieg reist er durch Norddeutschland, um hier zusammen mit Yehudi Menuhin Konzerte zu geben für die Überlebenden, teilweise in den Konzentrationslagern, die den Heimatlosen noch lange nach Kriegsende als Bleibe dienen. Die Bilder der Grausamkeiten dieser dunklen Tournee prägen sich ein und finden Eingang in sein musikalisches Schaffen.

Immer wieder beschreibt Britten die Konflikte von Außenseitern, die Protagonisten wenden sich gegen die Gesellschaft und zerbrechen. Ihn fasziniert die kindliche Unschuld und die böse Welt der Erwachsenen, Kinder werden von ihnen instrumentalisiert. Verführbarkeit und Ambivalenz – dem moralischen, guten Weg setzt er den bösen, dämonischen entgegen. Nicht zuletzt spiegelt sich hierin seine pädophile Neigung wider, die gerne kolportiert wird, um dem Komponisten Skandalhaftes anzulasten. Kompositorisch hält Britten an der Tonalität fest. Er ist ein disziplinierter und strukturierter Schreibtisch-Arbeiter mit einem strengen Tagesablauf. Bis zuletzt ist er in seinem Schaffen unglaublich produktiv und verfasst über 800 Kompositionen in vielen Genres. Er komponiert viel und ohne Unterlass, auch Krankheit hält ihn nicht davon ab. „Ich habe ein starkes Bedürfnis danach, dass meine Musik benutzt wird. Ich habe so gut wie nie ein Stück geschrieben, dass nicht auf einen Künstler oder ein Ensemble zugeschnitten war.“ Dadurch, dass er die Stücke den Musikern auf den Leib schreibt, kann er perfekt auf deren individuelle Spielweisen eingehen.

Mit seiner ersten Opernkomposition Peter Grimes beginnt nicht nur die Renaissance des englischen Musiktheaters, sondern auch die Geschichte der Oper nach dem zweiten Weltkrieg. Simultanität ist das entscheidende kompositorische Bauprinzip dieser Oper, das Meer und die Seeterminologie nehmen Einfluss auf die Musik: Der Fischer Peter Grimes gilt in seinem Dorf als Außenseiter. Als sein Lehrling unter mysteriösen Umständen stirbt, wird er zur Verantwortung gezogen. Die Gesellschaft hat ihren Sündenbock gefunden, und die Figur des Peter Grimes, der gleichsam die Eigenschaften des Meeres zugeschrieben werden, findet in diesem den Tod.

Insgesamt hat Britten sechzehn Opern komponiert. Die bekannteste unter ihnen dürfte Peter Grimes sein. Doch auch Billy Budd, The Rape of Lucetria, A Midsummer Night‘s Dream oder The Turn of the Screw tauchen häufiger in hiesigen Spielplänen auf. Sie waren schon zu Brittens Lebzeiten Erfolge, und sein letztes Opernwerk, Death in Venice, vollendet Britten drei Jahre vor seinem Tod, bereits von Krankheit gezeichnet. Die Rolle des Gustav von Aschenbach ist Peter Pears auf den Leib geschrieben, so wie viele Kompositionen davor auch. Nach einer Operation am Herzen kann Britten seine rechte Hand nicht mehr bewegen, trotz körperlichen Verfalls ist der Schaffensdrang ungebrochen. Noch 1976 beginnt er die Arbeit an Praise We Great Man. Im selben Jahr wird Britten in den Adelsstand erhoben: Baron Britten of Aldeburgh in the Country of Suffolk stirbt am 4. Dezember in seinem Haus – sein Partner Peter Pears ist bei ihm.

Der Insel-Wagner

Die Engländer lieben Benjamin Britten, und ein Vergleich mit Wagner ist sicherlich mit einem Augenzwinkern zu verstehen. Trotzdem, Königin Elisabeth II. hält Zeit seines Lebens eine schützende Hand über Britten, nicht zuletzt, weil sie seine Werke sehr gerne hört. Das britische Bayreuth befindet sich in der 140 km nordöstlich von London entfernt liegenden Kleinstadt Aldeburgh, an der Nordseeküste in der Grafschaft Suffolk. Wer in diesem Jahr nach England reist, kann noch bis Ende November das Programm des Aldeburgh Festival erkunden. Das 1948 von Britten, seinem Lebenspartner Peter Pears und Eric Crozier ins Leben gerufene Festival besteht bis heute und feiert dieses Jahr mit außergewöhnlichen Produktionen seinen Begründer. Das von Britten und seinen Freunden anti-elitär und anti-ästhetizistisch angelegte Festival widmet sich zum einen der Förderung junger professioneller Musiker, zum anderen bietet es verschiedene Bildungsangebote für Laien und junge Menschen, die bisher keinen Kontakt zur klassischen Musik aufbauen konnten. In dieser Saison wurde zum Beispiel Peter Grimes in einer Inszenierung von Tim Albery an den Strand verlegt. Seit Anfang September tourt die Produktion als Film durch viele Kinos Englands und lässt so die, die nicht live dabei sein können, am Erlebnis teilhaben.

Höhepunkt der Feierlichkeiten bildet Brittens Geburtsmonat November. Doch die Ereignisse beschränken sich nicht nur auf das Bühnengeschehen: Ipad-Nutzer können Brittens Young person‘s guide to the orchestra in einer eigens dafür programmierten Anwendungssoftware entdecken. Das Werk mit dem Untertitel Variationen und Fuge zu einem Thema von Purcell schrieb Britten 1946 ursprünglich für einen Lehrfilm. Heute zählt es zu einem der beliebtesten Werke der musikalischen Früherziehung. Durch die Kategorisierung in Blechbläser, Holzbläser, Streichinstrumente und Schlagwerk sollen die Tonfarben und Möglichkeiten der Orchestermitglieder aufgezeigt werden.

In erster Linie richtet sich die Software an Kinder, denen sie die klassische Musik spielerisch-visuell näher bringen möchte. Sie beinhaltet unter anderem eine Gesamtaufnahme des Werkes, viele interaktive Elemente, wie die Möglichkeit, eine Fuge selbst zu komponieren, ein Instrumenten-Quiz, Notenbeispiele, Videos und nicht zuletzt liebevoll gestaltete Animationen und Illustrationen. Das Angebot ist kostenfrei, in mehreren Sprachen nutzbar und zurzeit ausschließlich auf dem Ipad zu entdecken – nicht nur für Kinder spannend, sondern auch für deren Großeltern und Eltern.

Feiern in Deutschland

Zur Kölner Musiknacht wird das Vokalensemble Kölner Dom im September in der Trinitatiskirche mit Britten & Poulenc einen Vergleich zwischen der englischen und französischen Chortradition anbieten. Hymn to St. Cecilia wird gesungen, eines von Brittens populärsten Chorwerken: Geboren am Festtag der heiligen Cäcilia, der Schutzheiligen der Musik, fühlt Britten sich mit ihr verbunden und hegt bereits früh den Wunsch, ihr eine Hymne zu widmen. Begonnen hatte Britten noch im amerikanischen Exil mit der Arbeit an diesem Werk. Bei der riskanten Überfahrt nach England während des zweiten Weltkriegs wurden all seine Notenblätter und Manuskripte immer wieder konfisziert, weil man geheime Textbotschaften in der Notenschrift vermutete. Britten schrieb das bereits Komponierte aus dem Gedächtnis nieder und konnte so das Werk 1942 vollenden. Das Chorwerk steht in der Tradition des englischen Barock-Komponisten Henry Purcell, dessen Werk Britten sehr schätzte.

Ebenfalls einen gemischten Abend hat das Theater Hagen zur Spielzeiteröffnung zu bieten. Hier ist der Rahmen sehr viel weiter gesteckt: unter dem Titel Meisterfeier! Happy Birthday Britten, Verdi, Wagner wird hier eine Geburtstagsfeier für alle drei Komponisten in einem geschmissen. Conférencier des Abends ist Herbert Feuerstein. Wagner und Verdi wurden 1813 geboren und feiern dieses Jahr ebenfalls Geburtstag. Britten kam in London mit dem Werk Wagners in Berührung und ließ sich bei seinen Opernkompositionen auch von Verdi inspirieren. So schließt sich der Kreis der großen Opernkomponisten, und Herbert Feuerstein versichert: „Es sind ja auch in dem Abend Teile ausgewählt worden, die Britten als beweglichen Dramatiker zeigen; bei Verdi ist Statik; und bei Wagner, da ist es zementiert.“ Ein dramatischer Abend also, man kann auf das Programm gespannt sein.

Auch in der Hauptstadt nimmt Die Komische Oper Berlin Brittens Geburtstag zum Anlass und wird zur Spielzeiteröffnung den Sommernachtstraum zeigen. Unter der musikalischen Leitung von Kristiina Poska, die diese Oper zum ersten Mal dirigieren wird, und der Debüt-Inszenierung von Viestur Kairisch aus Riga, verspricht der Intendant Barry Kosky „einen wundervollen Abend voller Lachen, Weinen, Melancholie und Liebe.“ Nicht verwechseln sollte man diesen Sommernachtstraum mit dem Werk von Felix Mendelssohn Bartholdy – Brittens Version der Traumwelt kommt sehr viel weniger verspielt und romantisch daher, entführt dafür in eine ebenso märchenhafte Traumwelt, die William Shakespeares Vorlage treu bleibt. Möchte man die weiteren Opernwerke Brittens entdecken, kann man mit einer Reise nach Düsseldorf in dieser Spielzeit gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Hier wird zwar nicht der Sommernachtstraum gezeigt, dafür würdigt die Deutsche Oper am Rhein mit der Wiederaufnahme gleich mehrerer bekannter Britten-Opernproduktionen sein Schaffen: Peter Grimes, Billy Budd, The Turn of the Screw und Noye's Fludde stehen allesamt auf dem Spielplan. Neben der Dichte der Produktionen dürfte auch von Interesse sein, dass bei allen Produktionen Immo Karaman Regie führte. Der vielfach für seine Arbeiten ausgezeichnete Karaman wird in dieser Spielzeit auch für die Neuproduktion von Death in Venice verantwortlich sein.

Klein-Aldeburgh im Kölner Norden

Das Aldeburgh-Festival hatte Britten als eine Art Familienersatz gegründet, und es besteht bis heute erfolgreich. Die freie Musikszene Köln hat ganz im Sinne Brittens eine anti-elitär daherkommende Initiative gestartet und mit den Britten-Days das Aldeburgh-Festival zum Vorbild genommen. Unter der Schirmherrschaft von Michael Berkeley vereint das Festival ein Kindertheaterprojekt mit Konzerten, Filmvorführungen, Vorträgen und einem Festgottesdienst. Über das Internet können Interessenten das Festival finanziell unterstützen.

Zurzeit ist viel von Brittens Schaffen wiederzuentdecken. Nicht nur auf den Bühnen dieses Landes, sondern auch in den Konzerthäusern, den Radiostationen und nicht zuletzt mit etlichen Neuerscheinungen auf dem CD-Markt. Wie zum Beispiel die CD-Sammlung Benjamin Britten – Operas, auf der sechs von seinen eindrucksvollsten Opernwerken vereint sind. Zur gemütlichen Einstimmung im heimischen Wohnzimmer könnte man mit der preisgekrönten Dokumentation Benjamin Britten – A Time There was von 1979 über Brittens Leben und Werk beginnen (siehe rechte Spalte).

Bei den zahllosen Angeboten rund um Brittens 100. Geburtstag muss man sich wirklich keine Sorgen machen, dass das Werk des englischen Komponisten in Vergessenheit geraten könnte. Doch bei diesem Anlass kann noch einmal verdeutlicht werden, dass Brittens Produktivität nicht bei den bekannteren Opern aufhört, sondern es im Britten-Kosmos sehr viel mehr zu entdecken gibt. Es sind die vielen, oftmals kleinen Werke für Chöre oder Orchester, die nun vielleicht größere Aufmerksamkeit erhalten.

Jasmina Schebesta, 11.9.2013

 


Bereits mit fünf Jahren komponierte
Benjamin Britten.


1942 ist Britten aus dem Exil in
Nordamerika nach England zurück
gekehrt.


Zeit seines Lebens bleibt der
Komponist dem Meer verbunden.
Hier ist er 1959 am Aldeburgh-Beach
zu sehen.


Benjamin Britten und Peter Pears
blieben ein Paar bis zum Tode Brittens
im Jahr 1976.


Kinder können sich mit dieser App, die
auf einem Lehrfilm-Konzept Brittens
beruht, dem Orchester nähern.

Fotos: Britten Pears Foundation