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Der Klang der Kirche
Als die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) 2008 in Wittenberg eine Lutherdekade ausrief, die zum 500-jährigen Jubiläum der Reformation im Jahre 2017 führen soll, wollte sie bekannt machen, dass nicht allein Luther diese Bewegung auslöste. Vor allem aber soll es auch darum gehen, die enge Verbindung der reformatorischen Bewegung mit der Kirchenmusik aufzuzeigen. Was zu der Frage führt, ob und wie sich die Kirchenmusik eigentlich weiter entwickelt hat.
Auch wenn sich historisch nicht nachweisen lässt, dass Martin Luther 1517 wirklich die 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg geschlagen hat, ist sicher überliefert, dass seine Thesen zum Ärger der katholischen Kirchenoberen über Handdrucke und Mundpropaganda sehr schnell verbreitet wurden – und damit die Reformation auslösten. Danach war die Kirche nicht mehr die gleiche wie vorher. Mit seiner harschen Kritik an den Bischöfen, dem Umgang mit kirchlichen Ämtern und dem Ablasshandel war Luther nicht allein. Er sprach das aus, was vielen an der Praxis der Gottesdienste in den Kirchen missfiel. Seine Kritik stieß auf unerwartetes Echo und vereinte sich mit der anderer Kritiker wie Huss, Calvin, Zwingli oder Melanchton. Mit dieser wachsenden Zahl von gebildeten Kritikern entstand die Reformationsbewegung, die schließlich zur Gründung zahlreicher, von Rom unabhängiger „protestantischer“ Gemeinden führte. Während Luther, der „Held wider Willen“ mit seiner offenen Kritik die herrschende Kirche und manchen weltlichen Herrscher traf und politische Verhältnisse nachhaltig veränderte, blieb er beim christlichen Antisemitismus ein ausgesprochener Traditionalist, linientreu bis zur Peinlichkeit. Seine Versuche, das Volk Israel zu bekehren, blieben erfolglos, die Juden erwiesen sich als unbelehrbar. In seiner Streitschrift Von den Jüden und ihren Lügen, 1543, steigerte er sich bis zum Pogromaufruf. Er rüpelte nicht nur verbal gegen die Juden, er unterzog sie auch einer theologischen Abstrafung, warf ihnen Gottlosigkeit vor und deklassierte das Judentum als minderwertig. Kirchenhistoriker sehen hierin „eines der traurigsten Kapitel der protestantischen Kirchengeschichte“, von dem allerdings in den bisherigen Dekade-Themen nichts zu finden ist. Die EKD kündigt das Jahr 2013 mit dem Themenschwerpunkt „ Reformation und Toleranz“ an und betont, es sollen auch die intoleranten Seiten der Reformation zur Sprache kommen.
Kirchenmusik: Ein Motor der Reformation
Einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung der Reformationsbewegung hat die Musik in der Kirche, die Kirchenmusik. Luther wendet sich vehement gegen den römisch-lateinischen Messeritus und den lateinischen Gottesdienst. Er will dem Volk „ aufs Maul schauen“ und ihm das Wort Gottes in der eigenen Sprache näher bringen. Die des Lesens und Schreibens Unkundigen möchte er in ihrem Alltagsdeutsch erreichen, wie er in seinem Sendbrief vom Dolmetschen schreibt. Neben der Übersetzung der Bibel ins Alltagsdeutsch seiner Zeit kreiert und bearbeitet er viele Kirchenlieder, die für ihn selbstverständlich zum Gottesdienst dazu gehören. Er will keinesfalls auf die emotional-mythischen Elemente verzichten, die die Musik in den Gottesdienst bringt und die Gemeinde aktiv macht. In einfacher, plastischer Sprache und mit sehr eingängigen Melodien schafft er die Voraussetzungen für das erste Evangelische Gesangbuch, nutzt zahlreiche musikalische und religiöse Texte, um sie zu bis heute bekannten Liedern zu verarbeiten. Musikhistoriker zögern nicht, Luthers Kirchenlieder als „Gassenhauer“ ihrer Zeit, als „Schlager“ zu bezeichnen, die den Geschmack des Volkes auf der Straße treffen. Dass die Zeile ... und steur' des Papsts und Türcken Mord aus dem Lied Erhalt uns Herr bei deinem Wort… 1543 im Magdeburger Gesangbuch auftaucht, spricht für sich. Erst später wird sie abgemildert und umgedichtet in … und steure deiner Feinde Mord. Viele Lieder, die sich im Erfurter Enchiridion, einem der ersten evangelischen Gesangbücher, finden, sind über den Kreis der „Protestanten“ hinaus bekannt geworden und werden bis heute auch in anderen Konfessionen gesungen. Das seit 1993 genutzte Evangelische Gesangbuch enthält 35 Lieder von Luther. Dazu gehören, um nur ganz wenige zu nennen, so bekannte Lieder wie Nun freut euch, lieben Christen gmein, Vom Himmel hoch oder Christ ist erstanden.
Das verbreitete Ein feste Burg wird gar als Protestlied, als die „Marseillaise des Reformationsliedgutes“ bezeichnet. Luther, der selbst gerne, viel und laut singt, wird von seinem Zeitgenossen und Mitstreiter Hans Sachs 1523 als „Wittenberger Nachtigall“ gefeiert, die sich um eine neue deutschsprachige Liturgie bemüht und „evangelische“ Lieder schreibt. Sie unterscheiden sich inhaltlich von dem bisher üblichen katholischen Liedgut dadurch, dass sich die Gläubigen im Lied direkt und persönlich an „ihren“ Gott wenden. Musikalisch basieren sie auf einfachen Harmonien und Kadenzen, die gut zu singen sind und „ins Ohr“ gehen. Die von ihm geschaffenen Lieder lassen sich „ansingen, aussingen, besingen, dahersingen, hinaussingen, hinuntersingen, mitsingen, nachsingen, übersingen, untersingen, vorsingen, zusingen und, Gott sei es geklagt, leider auch zersingen ...“
Prominenz für das evangelische Lied
Für Luther sind die Kirchenlieder Fundamente des Glaubens und unmittelbarer volkstümlicher Teil des Gottesdienstes. Johannes Sebastian Bach, selbst späterer Anhänger der Reformation, gelingt mit seinen Motetten, Kantaten und Oratorien der Brückenschlag zur „klassischen Kirchenmusik“. In außerordentlich gründlicher und sachkundiger Weise studiert er die Theologie der Reformation in den Quellen der lutherschen Übersetzung und der Kirchenlieder. Er, auch „der Lutheraner“ genannt, findet darin reichhaltigen Stoff für seine kirchenmusikalischen Kompositionen, die für ihn „komponierte Theologie“ sind. In mehrstimmigen Chorsätzen, Chor- und Musikkompositionen sowie in umfangreichen Orchesterwerken hat Bach die Kirchenmusik weiter entwickelt und ihr seinen unverwechselbaren Stempel aufgedrückt.
Die Intensität und religiöse Verbindlichkeit der geistlichen Musik dieser Gründerjahre ist in der nachreformatorischen Zeit bis ins 20. Jahrhundert unter dem Einfluss eines individualisierenden Lebensstils und des unübersehbaren Angebots an Unterhaltungsmusik stark zurück gegangen. Allerdings sieht Ulrich Hirtzbruch, Dozent an der Hochschule für Kirchenmusik Herford, nach diesem Niedergang inzwischen eine Bewegung der Musik und Musikveranstaltungen zurück in die Kirchen: Heute werden ältere Formen wie Kantaten, Oratorien und Orgelkonzerte ergänzt durch kirchliche Popmusik und die Auftritte von Rock- und Popgruppen. Lieder wie Möge die Strasse…, Komm her, segne uns… oder Herr, deine Liebe… werden inzwischen auch von anderen Konfessionen und weltlichen Chören gesungen. Gospellieder gehören schon fast zum selbstverständlichen Repertoire vieler der 550 Kirchenchöre allein in Westfalen – bei aller Schwierigkeit, Gospelsound und Gospelfeeling zu treffen.
Musikalische Erneuerung zur Motivaton
Tamás Szőcs, Kantor in der evangelischen Kirchengemeinde Gronau und gleichzeitig im Kirchenkreis Steinfurt-Coesfeld-Borken, ist bei aller Liebe zur Musik, zur Kirchenmusik ein nüchterner Mann, der wahrnimmt, was in der Gemeinde an der Basis passiert. Er hat keine Berührungsängste mit dem, was andere „das Weltliche“ nennen. Sein Jugendchor hat neben kirchlichen Liedern selbstverständlich auch Gospelsongs auf dem Programm, in größeren Abständen lädt Szőcs die Senioren seiner Gemeinde zum unbekümmerten Schlagersingen ein – natürlich im Gemeindehaus. Aber er bemerkt auch, dass nach diesen Projektchören mit 30 bis 40 Teilnehmern hinterher keiner, nicht einer, Interesse gefunden hat, im Kirchenchor mitzusingen – das macht ihn traurig und ein wenig ratlos.
Im Rahmen der Lutherdekade stand das Jahr 2012 unter dem Motto „ Kirche klingt“. Mit „366 + 1“ Veranstaltungen hat das Jahr gezeigt, wie lebendig und vielseitig das musikalische Leben in den Gemeinden ist. Veranstaltungen an 366 verschiedenen Orten von den Adjuvantentagen in Hildesheim über ein Landeschorfest für Mecklenburg-Vorpommern bis zum Gospelkirchentag im Ruhrpott lassen die Breite heutiger Kirchenmusik erleben. Mit „800 Jahre Glauben, Singen, Lernen: Thomanerchor“ bis „Jazz erst recht“ haben Konzerte, Workshops und Podiumsdiskussionen zahlreiche Interessenten in die Veranstaltungen gelockt. Kein Zweifel: „Kirche klingt“! Ob und wie viele Menschen davon auch einen Impuls bekamen, am nächsten Sonntag einen Gottesdienst zu besuchen und dort mitzumusizieren, lässt sich nicht nachprüfen. Den aufwändig gestalteten Veranstaltungsreihen stehen weiter abnehmende Kirchenmitgliederzahlen und eine geringe Zahl von Gottesdienstbesuchern gegenüber, unter denen auch die Evangelischen Kirchen zu leiden haben.
Viele evangelische Gemeinden haben erkannt, dass „Volkes Maul“ heute anders redet und musiziert als zu Luthers Zeiten, sie zeigen Mut zu neuer Kirchenmusik. In Berlin Mitte kam 2011 die Kammeroper Paulus. Das ängstliche Harren der Kreatur zur Uraufführung. Im Landestheater Eisenach soll im Mai dieses Jahres mit einem Musical über den Reformator Martin Luther der „Held wider Willen“ in unsere Zeit geholt werden, ganz im Sinne Luthers: „Musik vertreibt den Teufel und macht die Menschen fröhlich.“ Ob es damit gelingt, den „richtigen“ Klang zu finden, der die Gläubigen wieder in die Kirchen lockt, bleibt abzuwarten.
Horst Dichanz, 23.1.2013
Hören Sie zum Thema auch den Audiobeitrag
mit Margot Käßmann im Archiv der Audiobeiträge 2013.
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