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Leidenschaft trifft Lebenslust
Eine Meisterklasse an der italienischen Adria? Das klingt ein bisschen nach Hobby im Urlaub. Was allerdings die Associazione Musicale Corale Antonio Bizzarri in Civitanova auf die Beine gestellt hat, wird möglicherweise nicht nur die Stimme von Sängerinnen und Sängern, sondern auch deren Leben verändern.
José van Dam ist eine Sängerlegende. Als Joseph van Damme im August 1940 in Brüssel geboren, studierte er am Königlichen Konservatorium seiner Heimatstadt. Bereits mit 21 Jahren debütierte der Bass-Bariton an der Pariser Oper, und von da aus ging es hinaus in die Welt. Vermutlich gibt es kaum eine Bühne, die der Mann mit der voluminösen Stimme im Laufe seines Lebens nicht gesehen hat. Immer wieder zog es ihn auch nach Deutschland, wo er unter anderem in West-Berlin, Köln und Mannheim Engagements innehatte. In den letzten zehn Jahren seines Lebens zählte Herbert von Karajan ihn zu seinen Lieblingssängern. In seiner Heimat ist er so etwas wie ein Held. Bereits 1998 ernannte König Albert ihn zum Baron, im Volk heißt er einfach „La voix de Belgique“. Am 8. Mai 2010 trat José van Dam in der Rolle von Massenets Don Quichotte von der Opernbühne ab. Weiterhin arbeitet er als Direktor der Sparte Gesang an der Chapelle Musicale Reine Elisabeth in Brüssel, gibt Konzerte und Recitals. Seine Meisterklassen sind selten geworden. Dafür ist seine Liebe zu allem, was mit Italien zu tun hat, bis heute ungebrochen.
Sehnsucht nach Italien
Die Marken sind eine Region in Mittelitalien, die zwischen Adria und Appenin liegt. Im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannt, werden Opernfans hellwach, wenn sie den Namen der Region hören. Denn dort liegt Pesaro, und dieser Ort ist für zumindest Rossini-Fans absolute Pflicht. Fährt man von dort aus die Küste hinunter, durch Ancona hindurch, gelangt man nach etwa 120 Kilometern in den Ort Civitanova Marche. Eine Stadt mit mehr als 40.000 Einwohnern, die aus zwei Teilen besteht. Der Porto Civitanove Marche wurde im 15. Jahrhundert errichtet, um Feinde von der See abzuwehren. Inzwischen ist es der neuere und inzwischen viel größere Ortsteil, der auch über einen Fischerei- und Jachthafen verfügt. Dort gibt es auch kilometerlange Strände, die bislang vom Massentourismus verschont geblieben sind. Interessanter ist vielleicht Civitanova Alta mit seinem historischen Ortskern und einem herrlichen Blick über die Adria. Wer die Tage nicht am Strand verbringt, stürzt hier in ein wahres Meer an Kultur. Man darf die Gegend wohl als fruchtbaren Nährboden für weltberühmte Stimmen bezeichnen. Benjamino Gigli, Tito Gobbi, Anita Cerquetti oder Franco Corelli stammen aus der Gegend – und Sesto Bruscantini ist in Civitanova geboren. Die Villa Bruscantini ist im Ortskern von Civitanova zu finden. „Ich habe ihn zwar nie persönlich kennengelernt, aber ich schätze sowohl seine Interpretationen, seine großartige Gesangstechnik, seine Eleganz und seine immensen schauspielerischen Fähigkeiten“, sagt van Dam über Bruscantini. Der Begriff Seelenverwandte gewinnt hier neue Bedeutung. Schließlich war Sesto Bruscantini einer der bedeutendsten Bass-Baritone Italiens. Erst allmählich entdeckt auch Civitanova den Sohn der Stadt wieder.
Wie alles zusammenfindet
Andrea Ferosi ist diplomierter Pianist, Komponist, Musiklehrer, Journalist, Chorleiter und als solcher Präsident der Associazione Musicale Corale Antonio Bizzarri. Gemeinsam mit Luigi Gnocchini, Präsident der Vereinigung der Chöre der Marche, arbeitet er daran, das Gedächtnis an Sesto Bruscantini zu bewahren und wachzuhalten. Als die beiden José van Dam kennenlernen, ist die Idee schnell geboren: Eine Meisterklasse mit dem Bariton, der so begeistert von Bruscantini ist, wird am ehesten dafür sorgen, die Erinnerung an den Bass-Bariton lebendig zu machen. Eigentlich hatte van Dam ja eher eine Rundreise durch Italien im Sinn, um mit seiner Frau endlich all die Orte kennenzulernen, von denen er bislang nur Hotel und Bühne erlebt hat. Aber der Gedanke, gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern die Begeisterung für Bruscantini wieder aufleben zu lassen, erscheint ihm reizvoller. Über drei Monate entwickeln die Musiker das Programm für die Meisterklasse. Neben den täglichen Übungen mit dem Maestro wird es am ersten Abend ein Recital mit einem hochkarätigen, international bekannten Pianisten geben. Am darauffolgenden Abend findet ein Konzert mit einem Solisten des Chors statt. Den glanzvollen Abschluss stellt ein Konzert mit allen Beteiligten dar. Die gesamte Meisterklasse ist für die Öffentlichkeit zugänglich.
Annibal Caro als die Bühne der Welt
Stattfinden wird all das im Teatro Annibal Caro. Das ist das örtliche Theater, das sofort seine Bereitschaft erklärt hat, die Bühne für die Veranstaltungen zu öffnen. Das Besondere an dem Theater ist, dass es zu einer Ansammlung von Theatern zählt, die in ihrer Häufung wohl einzigartig in der Welt sind. Kaum ein Ort in dieser Gegend, der nicht über ein Theater verfügt. Ob die Teilnehmer der Meisterklasse überhaupt Gelegenheit finden, all die kulturellen Kostbarkeiten der Gegend zu erforschen, ist fraglich. „Immerhin“, sagt Ferosi, „werden wir mindestens eine Weinverkostung in unser Programm einbauen.“ Es wird nicht mehr viele Meisterkurse mit ihm geben, da ist sich van Dam sicher. Vielleicht ist sogar der in Italien der letzte. „Aber der wird großartig“, freut sich der Bariton auf seine Schülerinnen und Schüler.
Michael S. Zerban, 3.4.2014
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