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Fakten zur Aufführung 

24 STUNDEN SIND KEIN TAG
(René Pollesch)
30. Juni 2003

Volksbühne Berlin

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Musik

Gesang

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Oper & Tattoos

Ren� Polleschs "24 Stunden sind kein Tag" im Rahmen des Neustadt-Projektes an der Volksb�hne Berlin Nein! Quatsch! Ich wei� selbst, da� das keine Oper ist. Aber es ist eine, jedenfalls dann, wenn Oper die musikalische Darstellung von Leidenschaften ist oder Leidenschaften selbst wird.

Ja, dann ist das hier eine Oper. Eine, bei der halt der Gesang fehlt. Aber er fehlt ja gar nicht, denn es brauchte einen Atmer mehr, und das hinausgeschrieene "Schei�e" der drei Protagonistinnen w�rde Gesang werden; er darf das aber nicht werden, denn dann w�r man ja restlos im Arsch... und im Arsch sein oder Beckett spielen, ich meine, wer will das schon? Da w�r man doch wieder beim Gesamtwerk von Fa�binder und Carpenter, bei dem man nat�rlich auch so ist, immer wieder, wir kommen aus dem Rattenrad nicht raus, in den verfallenden St�dten Molochs, auch denen, denen der Verfall noch gar nicht anzusehen ist, auch in Berlin nicht...

Ren� Polleschs St�ck ist eine Oper ohne Gesang �ber die Vergeblichkeit in St�dten und dar�ber, wie mies es ist, sich an dieser Vergeblichkeit und diesen St�dten auch noch zu berauschen, eben auch: musikalisch zu berauschen. Also ist dieses St�ck in antikem Sinn klassisch, sein Thema ist die Katharsis. Genau deren Dynamik hat Adorno, sie f�r die Gegenwart der Kulturindustrie uminterpretierend, "Verblendungszusammenhang" genannt. Ich habe das selten derma�en einleuchtend und zugleich frustrierend in Szene gesetzt erlebt wie gestern abend hier.

Seit Wagner das Orchester in den B�hnengraben verlegte, imgrunde unsichtbar machen wollte (was man am schlagendsten in Bayreuth erleben kann), also seit Geburt der Filmmusik, ist der Weg einer sich nicht musealisierenden Oper in den Spielfilm imgrunde vorgezeichnet; und aus dem Spielfilm kehrt sie manchmal - nun regressiv pervertiert - auf die B�hne, und zwar in Fremdterrain zur�ck: im Saal der Volksb�hne in etwas, das sich, wenn nicht "Oper", so schon gar nicht mehr "Schauspiel" nennen kann. Es fehlt n�mlich "die Geschichte", die story, der Plot. Ja aus der Vorlage Ren� Pollaschs - John Carpenters SF-Spielfilm "Die Klapperschlange" - ist alles herausgesogen und weggespuckt worden, was einmal Geschichte war... und es bleiben verzweifelte, verlorene Leidenschaften, die sich nur noch herausbr�llen lassen oder sich in theoriegeladene, zugleich endlos plappernde S�tze fl�chten, S�tze neben den Gef�hlen, die dennoch bisweilen gut konstruiert komisch sind, deren Syntax indes an die Pamphlete Jan-Carl Raspes oder Holger Meins' erinnert. Was das vorwiegend sehr junge Publikum wahrscheinlich nicht ahnt, um das herum gespielt wird.

Es gibt kaum mehr einen Unterschied zwischen B�hne und Sitzsaal, der sowieso improvisiert und von Stadtensemble umbaut ist, hier Friseur, da oben ein Waschsalon, dort vorn der sich drehende Wohncontainer, alles sehr stilisiert, sehr filmisch sowieso und schon deshalb ein wenig sehr auf die USA abgestimmt, schlie�lich lautet der zweite Titel dieser Schreioper mit Musik "Escape from NewYork". Diese das St�ck hochgradig aufladende Musik - aus versteckten Lautsprechern rasend - spricht ebenfalls meist amerikanisch oder wird rabiater, kreischender, technohafter Rap. Es ist bisweilen so laut, dass der Zuschauer vor mir sich die Ohren zuh�lt.

Hierzwischen nun, mal rennend, mal sich abseilend, mal sich an Mietskasernen aufgeilend, meist jedoch mitten im Publikum sitzend und mit gro�er Energie, ja w�tender Hingabe ihre architektursoziologisch-politischen Phrasen dreschend, agieren Christine Gro�, Nina Kronj�ger und Catrin Striebeck unter deutlich sp�rbarer (und so auch inszenierter) Beteiligung einer Souffleuse mit gro�en opernhaften Gesten, die nur zweimal klein werden, intim, innig. Da liegen die Frauen beieinander und k�nnen sich ihre Liebe nur noch gestehen, indem sie sich anfl�stern, wie schei�e sie einander finden, wie zum Kotzen, und dazu l�uft ein s��licher Popsong und f�llt den Saal und die Herzen.

Zum Schluss geht's gar uns�glich pubert�r ans Sterben; herzr�hrend ist das abermals und also erneute Perversion, Umschlag des Elends in Lust: sich "abtanzen" als eleusinische Affirmation. So auch, wenn die drei Damen dem Publikum ihre Tattoos zeigen, sie an einer Schaufensterscheibe, von innen, reiben. Seht her, unsere Wunden. Deutlicher kann Pop kaum desavouiert werden, er wird aber weitergefeiert. Viele der jungen Leute im Publikum summen mit... Und sie haben insofern Recht, als das ganze St�ck ohne Musik nicht funktionierte. So funktioniert es nicht nur, sondern die Leidenschaften finden ihren Ausdruck wie in der "anderen" Oper oder wie, ecco!, im Spielfilm nur.

Heftiger, lange anhaltender Beifall. Und hinterher anhaltend Verst�rung. Sicher nicht nur bei mir. (anh)