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Fakten zur Aufführung 

SENTIMENTI
(Giuseppe Verdi/
Ralf Rothmann)
18. Juni 2003 (Premiere)

RuhrTriennale
(Bochum, Jahrhunderthalle)

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Tod auf Kohle

"Kreationen" sind die Kernst�cke der Ruhrtriennale. Gerard Mortier "erfindet" mit phantasievollen Ensembles, Regisseuren, Musikern, Schauspielern und S�ngern eine szenische Form sui generis: Musiktheater pur mit schauspielernden Musikern und musizierenden Schauspielern.

In "Sentimenti" werden Ralf Rothmanns "Milch und Kohle" und Verdi-Arien zur Hommage auf eine sterbende Kultur integriert. Erstmals gewinnt das Leben im Revier der 60er Jahre tragische Dimension! Johan Simons und Paul Kolk der ZT Hollandia Eindhoven nutzen dazu eine B�hne von Geert Peymen, die eine Spielfl�che aus Tausenden von Briketts pr�sentiert - Verweise auf eine Vergangenheit in einem industriellen Denkmal sakraler Gr��e.

Der weitl�ufige Spielraum wird zum Lebensraum der sterbenden Mutter, lebenshungrig, ohne Ausweg aus der gegebenen Umwelt mit harter Arbeit, erzwungener Armut und Fluchten in plattes Am�sement - den unausweichlichen unerf�llten Tod vor Augen, alles kommentiert durch Simon, den quasi-emanzipierten Sohn. Solo-Aktionen, Gruppen-Exaltationen und differenziertes kollektives Handeln von Schauspielern, S�ngern und Musikern sind selten zu erlebende Dokumentationen von K�rperlichkeit auf der B�hne - abseits jeglicher aktionistischer Spekulation, intensiv bis zur emotionalen �berw�ltigung.

Unter den Schauspielern faszinieren Jeroen Willems als Simon, der das vergebliche Suchen seiner Mutter nach Gl�ck kommentiert und nachvollziehbar erlebt, dass sie ihr eigenes Leben gesucht hat. Der Liesel verleiht - ja wer denn? - intensivste Glaubw�rdigkeit - als Sterbende, als Mutter, als frustrierte Arbeiterfrau, als sehns�chtig Liebende, als Opfer der Verh�ltnisse im Arbeitermilieu der sechziger Jahre.

Die Gesangssolisten artikulieren die Verdi-Passagen aus Trovatore, Aida, Don Carlos und Traviata wunderbar elegisch - die h�chstenwickelte amplification-Technik in der Jahrhunderthalle unterst�tzt die ohnehin vorkommende Stimmkultur der Opern-Stars Elzbieta Szmytka, Carol Wilson, Dagmar Peckova und Hector Sandoval aufs Intensivste - Gott sei Dank ist das bei "normalen" Opernauftritten nicht notwendig, und auch nicht gefragt!

Das Musikerensemble intoniert die von Paul Kolk bearbeiteten Verdi-Arien �u�erst distinguiert, begleitet sonst mit sph�rischen Kl�ngen, atmosph�risch verdichtenden Ger�uschen unter Edward Gardner die Szenen des Totentanzes einer Frau als Paradigma einer untergehenden Kultur.

Weshalb im ansonsten hochinformativen Programmheft die Musiker nach Instrumenten aufgelistet werden, den SchauspielerInnen die Zuordnung zu ihren Rollen verweigert wird, bleibt unerfindlich und ist eine kreative Ignoranz sondergleichen: dagegen ger�t die stimmliche Zuordnung der S�ngerInnen fast zur Marginalie. Aber das mangelnde Verst�ndnis f�r Solisten und den Informationswunsch des Publikums ist ein skandal�ses Defizit.

Im Publikum - viele k�nnen sich offenbar vom plaudernd-kommentierenden TV-Verhalten nicht trennen (was nervt und st�rt) - bekommen auch Hartgesottene feuchte Augen; die Ergriffenheit gewinnt erst nach einiger Zeit die Kraft zu enthusiastischem Applaus. Allen Beteiligten wird jedenfalls klar: hier ist der Tod auf Kohle zu erleben; der Untergang einer Epoche. Und vor allem: Wie mit D�blins "Biberkopf" Berlin oder Rosselinis "Mamma Roma" gewinnt die Ruhr mit "Sentimenti" tragische Qualit�t: der Prozess des banalen Strukturwandels transzendiert zur leidvollen Zeitenwende! Grandios und einmalig! (frs)


Foto: © Ursula Kaufmann